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Paul Brune hat 'Glück gehabt'. Nach fast 60 Jahren und fünf vergeblichen Petitionen ist er als Verfolgter des Nazi-Regimes anerkannt worden. Kaum einem Opfer der NS-Psychiatrie ist das gelungen. Nun erhält er monatlich etwa 260 Euro, die höchstmögliche Entschädigung, die das Land Nordrhein-Westfalen bereit ist, an einen Überlebenden der nationalsozialistischen Psychiatrieverbrechen zu bezahlen.

Paul Brunes Leidensweg beginnt früh. 1935 wird er in Altengeseke am Rande des Sauerlandes geboren. Er ist das Kind einer außerehelichen Beziehung seiner Mutter. Der betrogene Ehemann mißhandelt seine Frau wegen ihres Seitensprungs so schwer, dass sie sich und drei ihrer Kinder im Dorfteich zu ertränken versucht. Ein Kind stirbt, und die Verwandten der Mutter erklären sie für geistesgestört, um sie vor dem drohenden Todesurteil wegen Kindesmord zu bewahren. Die Mutter wird in eine Irrenanstalt eingewiesen und zwangssterilisiert, die Kinder werden auf Heime verteilt.

Paul kommt als Einjähriger in das katholische Waisenhaus Lippstadt, das von Vincentinerinnen geführt wird. In der Horst Wessel-Schule erfährt der Schulrektor, ein überzeugter Faschist und Anhänger der "Rassenhygiene", die Vorgeschichte Paul Brunes. Auf sein Betreiben wird ein Antrag auf Erfassung und Begutachtung im Sinne des Euthanasiekonzepts der Nationalsozialisten gestellt. Paul Brune wird von einem Gutachter "asoziales Verhalten" und "Anstaltspflegebedürftigkeit wegen Geisteskrankheit" attestiert. Das bedeutet in dieser Zeit höchste Todesgefahr.

Paul Brune ist acht Jahre alt, als er in die Heilanstalt Dortmund-Aplerbeck gebracht wird. Hinter den Mauern der "Kinderfachabteilung" werden im Rahmen der "Kindereuthanasie" über 200 Kinder ermordet. Zeitgleich werden von Aplerbeck aus auch zahlreiche erwachsene Patienten in die Vernichtungsanstalten der NS-"Euthanasie" geschickt.

Paul Brune hat 'Glück gehabt'. Knapp entgeht er der Vernichtung und wird in die „Idiotenanstalt" St. Johannes-Stift in Niedermarsberg im Sauerland verlegt. Wahrscheinlich haben seine guten schulischen Leistungen ihn gerettet.

Die nächsten zehn Jahre verbringt er in der 'Obhut' der "Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vincenz von Paul". Um ihn herum Hunger, Gewalt, Mißbrauch und Tod. Nichtigkeiten werden mit Prügel, Kaltwasserbädern, Essensentzug und Zwangsjacke bestraft. Daran ändert sich auch nach 1945 nichts. Paul Brune fragt sich bis heute, wie er diese Kinderhölle überlebt hat. Von 1943 bis Anfang der 50er Jahre sind rund 400 Kinder in der Anstalt St. Johannes-Stift gestorben. Paul Brune hat selbst mitangesehen, wie auch nach 1945 Kinder an den von Pflegern und Aufseherinnen zugefügten Verletzungen sterben.

Als 15jährigen gibt ihn die Anstalt zu einem Bauern im Sauerland in "Familienpflege". Der ist hocherfreut über die billige Arbeitskraft und beutet ihn nach Strich und Faden aus. Bis zu 15 Stunden täglich muß Paul Brune arbeiten, für ein winziges Taschengeld.

Nach einem Selbstmordversuch wird er erneut im St. Johannes-Stift eingesperrt. Dieses Mal landet er 'zur Strafe' in der geschlossenen Station für die schwerstbehinderten Kinder. Im Anstaltsjargon heißt sie "der Schutthaufen". Trotz der unmenschlichen Verhältnisse und sadistischen Quälereien auf dieser Station gibt Paul Brune nicht auf. Bei einem seiner Fluchtversuche schlägt er sich nach Altengeseke zu seiner Familie durch. Onkel und Tante wollen ihn aufnehmen, aber die Anstalt läßt ihn wieder abholen.

Schließlich wird er in die geschlossene Anstalt Marienthal nach Münster gebracht, wo er für immer hinter Anstaltsmauern verschwinden soll. Ein Priester, Patient wie er, setzt sich erstmals für ihn ein. Nach weiteren vier Jahren Knechtschaft auf einem Bauernhof erreicht Paul Brune schließlich, dass das Vormundschaftsgericht seine Entmündigung aufhebt. Es ist das Jahr 1957.

"Ich habe Glück gehabt" sagt Paul Brune, "es hätte alles noch viel schlimmer kommen können. Was ist Niedermarsberg gegen Auschwitz?"

Paul Brune kämpft. Er schlägt sich als Hilfsarbeiter durch und nutzt jede freie Minute zum Lernen. Immer wieder versucht er durch Petitionen, eine Entschädigung zu erreichen und auf die in den Anstalten verübten Verbrechen hinzuweisen. Vergeblich. Irgendwann in dieser Zeit ist ein Vermerk in seine Akte gekommen. Paul Brune sei ein "unverbesserlicher Querulant, der die Behörden belästigt".

Vor allem kämpft er um das Recht, die ihm verweigerte Bildung nachzuholen. Es gelingt ihm, das Abitur zu machen. Anfang der 70er Jahre beginnt er an der Bochumer Universität das Studium der Germanistik und Philosophie. Er will Lehrer werden. Kurz vor Ende seines Studiums läuft sein BAFÖG aus, er beantragt Sozialhilfe, um sein Examen machen zu können. Er erhält eine Vorladung zum Gesundheitsamt. Der Psychiater vom Dienst läßt sich Unterlagen kommen. Da ist sie wieder, die Irrenhausakte, die Paul Brune sein Leben lang begleitet. Für den Amtsarzt ist Paul Brune ein "Schulbeispiel für asoziales Verhalten infolge Erbanlage." Paul Brune wehrt sich erfolgreich vor Gericht, um sein Referendariat machen und das zweite Staatsexamen ablegen zu können. In den Schuldienst wird er nicht übernommen.

Paul Brune hat überlebt. Aber das Stigma, einmal als "lebensunwert" abgestempelt zu sein, begleitet ihn ein Leben lang. Seine kleine Wohnung in einem Hochhausviertel nahe der Bochumer Uni ist über und über voll mit Büchern. Von Spinoza über Noam Chomsky bis zu den Erinnerungen von Claire Goll ist alles da, was man sich zu lesen wünscht. Auf dem liebevoll gepflegten Balkon blühen die ersten Hyazinthen.

"Sie haben ein unwahrscheinliches Glück gehabt, Herr Brune, dass Sie überhaupt lebendig aus dieser Schlangengrube herausgekommen sind. Ihre Akte ist ungeheuerlich. Sie müssten ein Monstrum sein, das es gar nicht gibt. Alle Geisteskrankheiten, welche es gibt, hat man Ihnen angehängt. Von den Verdammungsurteilen ganz zu schweigen", sagt 1966 eine Nervenärztin zu Paul Brune. Sie macht ihm Mut, sich mit aller Kraft gegen die an ihm begangenen Verbrechen zu wehren und für die Wiederherstellung seiner Würde zu kämpfen.

Er hat diesen Kampf gewonnen. Aber es bleiben bittere Fragen: Wie viel kostet die Lebenszeit, die ein Mensch einem solchen Alptraum opfern musste? Wie war es möglich, dass die menschenverachtenden Verhältnisse in den psychiatrischen Anstalten jahrzehntelang fortbestanden? Warum war die Demokratie so lange unfähig, auf der Ideologie der "Rassenhygiene" beruhende Urteile aufzuheben? Und in wie vielen Fällen haben wir die angenehme 'Entschuldung' des Pilatus vorgezogen: "Ich wasche meine Hände in Unschuld"?
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