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Der Friedenslehrer

Historiker und Versöhner: Begegnung mit Joseph Walk

Vielleicht liegt es daran, daß Joseph Walk seit 60 Jahren unterrichtet. Jedenfalls wird er bei der Begegnung in der Halle eines Freiburger Hotels nicht müde, das Gegenüber zu fragen: "Spreche ich zu schnell? Kennen Sie koscheres Essen? Sie wissen, was die Aktion Sühnezeichen ist?" Am Sonntag hat der 82 Jahre alte jüdische Historiker und Friedensaktivist in Freiburg die Buber-Rosenzweig-Medaille erhalten. In der Laudatio würdigt ihn der Vertreter der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit als "Lehrer der Hoffnung und des Neuanfangs zwischen Juden und Christen, zwischen Deutschland und Israel".

Die wohl prägendste Erfahrung für Joseph Walk war die, als Jude in Deutschland einer Minderheit anzugehören. Er wurde 1914 in Breslau geboren, als Sohn einer religiösen, zugleich deutsch und zionistisch gesinnten Familie. Angesichts einer feindseligen Umgebung fand er seine Heimat in der Thora und im Talmud, in der jüdischen Schule und der jüdischen Gemeinde. Er wählte den Beruf des Erziehers: Nach Hitlers Machtübernahme unterrichtete er an jüdischen Volksschulen, bis er 1936 nach Palästina emigrierte.

Dort arbeitete er jahrelang als Dorfschullehrer. Erst der 40jährige schrieb sich an der Universität Jerusalem ein, studierte Pädagogik und Jüdische Geschichte. Er wurde Wissenschaftler und blieb ein religiöser Jude. Noch heute trägt er die Kibba, das Gebetskäppchen, und hält die Sabbat-Ruhe strikt ein, "als Vorwegnahme des Paradieses". Und noch heute setzt er ausgerechnet auf die Religion als Weg zur Verständigung, in der Hoffnung auf die gemeinsame ethische Basis aller Bekenntnisse.

Ob in Deutschland oder im Holocaust-Dokumentatonszentrum Yad Vashem, mindestens einmal im Monat spricht Walk in seinem "Weimarer Deutsch" vor deutschem Publikum. Meist stammt es aus christlichen Kreisen, etwa aus dem Umfeld der "Aktion Sühnezeichen", und will die jüdischen Wurzeln des Christentums kennenlernen.

Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit - "als religiöser Jude im Judentum, als Zionist innerhalb der Juden und als Sozialist innerhalb der zionistisch-religiösen Juden" - zwang ihn, wie er sagt, "selbst zu denken", befähigte ihn zu einem nonkonformistischen Leben. Das "Selberdenken" prägte nicht zuletzt seine wissenschaftliche Arbeit als Historiker. Er wählte Randthemen, vergessene Kapitel In der Geschichte des deutschen Judentums, und ließ in ihnen die "große" Geschichte seines Volkes aufleuchten. Besonders für seine Doktorarbeit: "Die Erziehung des jüdischen Kindes im Nazi-Deutschland" erhielt er viel Lob und Anerkennung. Walk avancierte zum Professor für jüdische Geschichte an der Universität Bar-Ilan in Tel Aviv und 1978 zum Leiter des Jerusalemer Leo-Baeck-Instituts.

Die Erfahrung der Fremdheit schärfte auch sein Einfühlungsvermögen für die Angehörigen anderer Minderheiten. Sie ließ ihn, wie er in einem Aufsatz schrieb, "nachempfinden, was die arabische Minderheit heute in Israel empfindet". Mit gleichgesinnten religiösen Zionisten gründete er in den 70er Jahren die religiöse Friedensbewegung "Oz ve Shalom", die zu Verständigung und Toleranz aufruft.

Wenngleich Walk nach den jüngsten Anschlägen von Hamas für eine "Atempause" im Friedensprozeß eintritt, hält er am Grundsatz "Land gegen Frieden" fest. „Schließlich ist man nicht ungestraft Besatzungsmacht", sagt Walk. Die Gewalt falle letztlich auf die Israelis zurück, füge ihren Seelen Schaden zu. Seine Tochter sieht das anders: Sie leitet den religiösen Piratensender "Arutz (Kanal) 7", der ein Groß-Israel propagiert, am besten "bis jenseits vom Jordan". Der Riß, der die Gesellschaft entzweit, geht auch durch Joseph Walks Familie. Die Konsequenz: Über Politik wird in seinem Haus nicht mehr gesprochen.

Eric Breitinger

BZ, 07. März 1996
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