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„Ich kam nach Palästina…“

Treatment für einen Dokumentarfilm

"Es kommt also nicht darauf an, ein 'Ideal' zu verkünden und seine Erfüllung zu fordern, zu verfechten und abzuwarten, sondern darauf, an jedem Morgen mit der Verwirklichung des Rechten zu beginnen, ohne zu wissen, wie weit man heute kommt, wissend, daß es am nächsten Morgen erneuten Anfang gibt – und daß in diesem All-Tag verborgen unser Vollenden und unsere Vollendung ruht."

(Martin Buber 1924)

Die Idee

Fast 50 Jahre nach der mißglückten Staatsgründung, nach 5 verlorenen Kriegen und Jahrzehnten der Vertreibung, der Selbsttäuschung, der Entwürdigung und des Hasses ist für die Palästinenser die Gründung eines eigenen Staates zum ersten Mal in greifbare Nähe gerückt. Mitgekämpft und mitgelitten hat während all dieser Jahre eine kleine Minderheit der Bevölkerung Israels, die es nie geschafft hat, zu einer großen Bewegung heranzuwachsen, die aber dennoch nichts unversucht gelassen hat, um eine Aussöhnung von Juden und Arabern herbeizuführen. Ich spreche von der Handvoll überlebender alter Juden und Jüdinnen, die sich zum Teil seit über einem halben Jahrhundert aktiv für die Selbstbestimmungsrechte der Palästinenser einsetzen.

Die meisten von ihnen waren in den 20er und 30er Jahren als junge Pioniere, die sich dem zionistischen Ideal der Gründung eines jüdischen Staates verschrieben hatten, aus osteuropäischen Ländern und Deutschland in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina eingewandert. Für einen Großteil der Einwanderer stand der Gedanke der nationalen Selbstverwirklichung, die die Juden aus antisemitischer Diskriminierung und sozialer Verelendung herausführen sollte, im Einklang mit den Ideen des utopischen Sozialismus: von der eigenen Hände Arbeit leben, von der Bearbeitung des eigenen Bodens in einer gerechten und brüderlichen Gesellschaft.

Ihre humanistische Gesinnung brachte jedoch einige von ihnen mit der zionistischen Politik in Konflikt. Sie konnten nicht akzeptieren, daß die Existenz des arabischen Teils der Bevölkerung Palästinas negiert wurde und arabische Bauern von ihrem Boden vertrieben wurden. Sie haben Unverständnis und offene Feindschaft in Kauf nehmen müssen, da sie immer wieder eindringlich vor den Konsequenzen der gewaltsamen Ausgrenzung der arabischen Bevölkerung gewarnt haben.

Die Lebenserinnerungen dieser Menschen blättern einen Teil der Geschichte Israels auf, ohne den das Durchringen Israels zu einem Friedensschluß mit seinen arabischen Nachbarn nur zum Teil verständlich ist. Sie sind das Ferment gewesen, das in vielfältigen Formen, in parlamentarischen und außerparlamentarischen Bewegungen den Gedanken des friedlichen Zusammenlebens im Bewußtsein der israelischen Öffentlichkeit wachgehalten hat. Sie ihre Lebensgeschichte erzählen zu lassen bedeutet, die Vorgeschichte der Friedensverhandlungen im Nahen Osten aufzurollen.

Auf jüdischer und arabischer Seite herrscht bis heute die Überzeugung vor, daß die eigene Identität vor allem über das Nationalbewußtsein definiert werden muß. Martin Buber erklärte den jüdischen Nationalismus aus dem Mangel an territorialer Fundierung, an Freiheit und an Einheit, ohne die ein Volk "sein Volksein" nicht ausfüllen kann. Die jüdische Intellektuelle und Wissenschaftlerin Hannah Arendt hat in ihren Schriften deutlich gemacht, wie es der zionistischen Bewegung gelungen ist, Juden, die nicht aus nationalistischen Überzeugungen ins Land gekommen waren, davon zu überzeugen, sich mit der Parole "Land ohne Volk" zu identifizieren, um nicht politischen und sozialen Selbstmord zu begehen. Die jüdischen Arbeiter mußten demnach die arabische Bevölkerung ignorieren, um ihre eigene Basis des Überlebens abzusichern. Selbst die Idealisten unter ihnen ließen sich zur Achtlosigkeit und später zur Engstirnigkeit gegenüber den Palästinensern bewegen. Gleichzeitig war die Idee einer jüdischen Heimstatt darauf gegründet, daß möglichst viele Menschen mit ihrer eigenen Hände Arbeit den jüdischen Staat aufbauen halfen: Ohne das jüdische Proletariat hätte "das gesamte zionistische Unterfangen leicht zu einem kolonialen Unternehmen verkommen können, das ganz zu Lasten der Eingeborenen ging und auf deren Arbeit basierte" (Hannah Arendt). So war der Nationalismus auch eine Waffe, die vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg schützen sollte. Das israelische Nationalbewußtsein gründete bisher auf dem Kampf ums Überleben, der Besiedlung von Land und der Einwanderung. Dieser Konsens, sagt der israelische Schriftsteller Abraham B. Jehoschua, der bisher den Yuppie aus Tel Aviv mit dem Orientalen aus Haifa und dem religiösen Juden in Jerusalem verband, ist ins Wanken geraten. Israel hat den Kampf ums Überleben gewonnen. Die Besiedlung von Land, um die Grenzen zu sichern, verliert entscheidend an Bedeutung, sobald die Grenzen anerkannt werden. Und im Frieden braucht die Einwanderung kein Gegengewicht mehr zur arabischen Bevölkerung zu schaffen. Indem Israel Frieden mit seinen arabischen Nachbarn schließt, drängt sich die Frage nach einem neuen Selbstverständnis auf.

Als wichtigstes Merkmal der geistigen und moralischen Integrität Israels galt jahrzehntelang der Kibbutz, die ländliche Kommune. Hier wurde ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz (Martin Buber) vorgelebt, der Inbegriff des israelischen Egalitarismus (Isaac Deutscher) schlechthin. Ideengeschichtlich läßt sich der Kibbutz als Institution bis zu den Theorien von Fourier und den Versuchskooperativen von Robert Owen zurückverfolgen. Doch während die Experimente des utopischen Sozialismus scheiterten oder im Kapitalismus aufgingen, hat der Kibbutz eine erstaunliche Überlebensfähigkeit entwickelt. Der Kibbutz ist ein moralisches Kraftfeld, das tief in die israelische Öffentlichkeit hineinstrahlt und maßgeblich zur israelischen Identitätsbildung beigetragen hat. Doch mit dem Verschwinden der Gründergeneration und ihrer geistigen Werte wird auch das Erbe der Kibbutzbewegung immer deutlicher zur Disposition gestellt.

Die frühen Pioniere des Friedens, die ich in meinem Film vorstellen möchte, verbinden die Hoffnung auf einen Frieden mit der Utopie einer sozial gerechten Gesellschaft. Rückblickend auf ihr Leben und ihr Engagement werde ich sie danach fragen, wie das Leben in Israel im Zeitalter des Friedens aussehen wird und ob die jüdischen Werte eines humanen und gerechten Egalitarismus in dieser zukünftigen Gesellschaft Bestand haben können.

Die Zeitzeugen

Bei der Auswahl der Zeitzeugen habe ich auf die folgenden Kriterien Wert gelegt:

a) die Zeitzeugen sind nicht im Land geboren

b) sie sind als junge Menschen während der 20er und 30er Jahre eingewandert

c) sie repräsentieren unterschiedliche Strömungen des geistigen Lebens in Israel

d) sie haben sich in unterschiedlicher Weise für den Frieden eingesetzt

Die Protagonisten gehören der Gründergeneration Israels an. Die meisten von ihnen sind noch in ihrer ursprünglichen Heimat durch zionistische Jugendorganisationen auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet worden. Im Vordergrund stand nicht so sehr die Flucht vor der heraufziehenden gewaltsamen Vernichtung, sondern die Gründung eines nationalen jüdischen Staats. Dabei spielte das durch die zionistische Bewegung ins Leben gerufene jüdische Nationalbewußtsein ebensosehr eine Rolle wie das Ideengut des Sozialismus, das mit seinem Aufkommen unter den Juden Ost- und Westeuropas eine große Anhängerschaft gefunden hatte. Während jedoch die nichtzionistischen, jüdischen Sozialisten für den Internationalismus eintraten und den jüdischen Nationalismus als reaktionär und falsch brandmarkten, strebten die zionistischen Sozialisten in Anlehnung an den utopischen Sozialismus die Verwirklichung ihrer Ideale in Lebensgemeinschaften und Kommunen an, in denen nicht nur der Arbeitsertrag umverteilt wurde, sondern sich auch die Beziehungen der Menschen untereinander wandeln sollten. Die Palästinafahrer erhielten Unterricht in Landarbeit, um sie auf ihr zukünftiges Leben im Kibbutz vorzubereiten.

Einige meiner Protagonisten haben sich der damals verbotenen kommunistischen Partei angeschlossen, die als einzige jüdische politische Partei für die Rechte der Araber eintrat. Andere haben die israelische Friedensbewegung mitbegründet. Wieder andere haben außerhalb des Parlaments an der Basis in ihrer unmittelbaren Umgebung für die Gleichberechtigung der Palästinenser gekämpft. Und bei einigen haben ethische und religiöse Überzeugungen ihr Engagement für eine friedliche Lösung begründet.

Ruth Lubitsch

"In Europa hatte man keine genaue Vorstellung von Palästina. Die Zionisten hatten sich dazu gar nicht oder nur sehr unzureichend geäußert. Um so größer war die böse Überraschung, als ich im Kibbutz von den Arabern und den Problemen mit den Arabern hörte. Es war von Anfang an nicht daran gedacht, mit den Arabern zu kooperieren."

Ruth Lubitsch wurde als Anka Warschawiak 1910 in einem bürgerlichen Elternhaus in Warschau geboren. Als Jugendliche schloß sie sich der zionistischen sozialistischen Jugendbewegung ha-Schomer ha-Zair an. Sie wollte weg von dem despotischen Vater, der seine Söhne in eine religiöse Schule schickte. Sie wollte selbständig sein und in einem Kibbutz leben. Als 19jährige kam sie 1929 nach Palästina und wurde sehr bald im Kibbutz damit konfrontiert, daß der arabischen Bevölkerung das Land weggenommen wurde. Diese Erfahrung, die im klaren Widerspruch zu ihrer Weltanschauung stand, ließ sie den Kibbutz verlassen und Gesinnungsgenossen suchen, die sie bei der damals noch illegalen KP fand. In den darauf folgenden Jahrzehnten wurde sie eine unermüdliche Parteiarbeiterin, die es bis in das Zentralkomitee der Organisation brachte.

Heute macht Ruth Lubitsch keinen Hehl daraus, daß sie damals die Augen vor dem Stalinismus verschlossen hat. "Ich liebte die Sowjetunion wie ein Kind, und man wäscht keine schmutzige Wäsche vor den Augen der Nachbarn." Nach wie vor glaubt sie fest an ihre sozialistischen Ideale. "Zwei große Ziele hatte ich in meinem Leben. Ich wollte den Sozialismus in Israel aufbauen und, ich wollte die Aussöhnung mit den Palästinensern. Ich bin froh, daß ich wenigstens noch die Verwirklichung eines meiner Ziele erleben darf."

Die KP Israel ist jahrzehntelang die einzige politische Kraft gewesen, die sich aktiv für die Rechte der Palästinenser eingesetzt hat. Das hat sie im Verlauf der Jahre immer mehr von einer jüdischen in eine arabische Partei verwandelt, die ihre Mitglieder hauptsächlich in der israelisch-arabischen Bevölkerung hat. Nach dem 67er Krieg ging Ruth Lubitsch daran, in den besetzten Gebieten palästinensische Frauengruppen aufzubauen und die Frauen in ihrem doppelten Kampf gegen die israelische Okkupation und die Despotie ihrer Väter und Männer zu unterstützen. In jüngster Zeit versucht sie, das Schicksal von jüdischen Parteigenossen aufzudecken, die in den 30er und 40er Jahren in die Sowjetunion gingen und seitdem verschollen sind.

Amos Wollin

"Ich kam in ein Land, auf das ich nicht vorbereitet war. Am 22. oder 23. September 1938, eine Woche bevor sich Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier in München auf die Abtretung des Sudetenlandes an Hitler-Deutschland einigten, haben wir die Tschechoslowakei in Richtung Palästina verlassen. Es war das allerletzte Läuten. Ich war damals 15 Jahre alt." Amos Wollins Vater, ein Arzt aus Leitmeritz, war Zeit seines Lebens kein Zionist und als eingefleischter Kantianer ein Antinationalist. Er ging aus rein pragmatischen Gründen nach Palästina, da er für sich und seine Familie als Juden keine andere Möglichkeit sah, dem kommenden Inferno zu entfliehen. Amos Wollin ist in einem multikulturellen Umfeld, einer Mischung aus deutschen und tschechischen Elementen aufgewachsen. Dies und der geistige Einfluß der Eltern haben ihn im jüdischen Milieu in Palästina, das von der nationalen zionistischen Idee beherrscht war, von Anfang an in eine Außenseiterposition gedrängt. Schon bald merkte er, daß er sich niemals im Kibbutz einleben würde. "Die Jugendgruppe wollte mich am Ende fast zur Entscheidung für den Kibbutz zwingen. Doch je größer der Druck wurde, desto klarer wurde mein Entschluß: Ich wollte weg."

Seine Kritik an der Behandlung der Palästinenser entsprang nicht so sehr der persönlichen Konfrontation als vielmehr der liberalen antinationalen Gesinnung, die ihn geprägt hat. Auch als Offizier der englischen Armee trieb ihn vor allem der Wunsch an, gegen den Faschismus zu kämpfen und nicht, wie seine jüdischen Gefährten, den Grundstein für eine israelische Armee zu legen.

Bis heute arbeitet Amos Wollin als Korrespondent für eine deutsche und amerikanische Zeitung. Mit wachem und scharfem Verstand beobachtet er kritisch die Entwicklung Israels. Wir sitzen in der Abendsonne auf seiner von Pflanzen überwucherten Dachterasse im Süden von Tel Aviv, den Blick aufs Meer gerichtet. Vier Kampfhubschrauber kommen eben den Strand entlanggeflogen und verschwinden in südlicher Richtung. Sie kehren von einem Kampfeinsatz im Libanon zurück. " Nachher können wir uns im Fernsehen anschauen, wo sie gewesen sind" sagt Amos Wollin. "Oft bin ich gefragt worden, ob ich mich mit meiner ganzen Kritik an Israel hier überhaupt zu Hause fühle. Ja, insofern ich mich überhaupt irgendwo zu Hause fühle, dann in Israel. Ich fühle und denke als Israeli. Aber als ein unbequemer Israeli. Und ich habe große Wünsche an Israel."

Edda Tandler

Edda Tandler stammt aus einer wohlhabenden, weltoffenen und nichtreligösen Familie aus Zagreb. Ihr Vater besaß einen Ledergroßhandel. Schon als Schülerin am Gymnasium wurde sie in der ha-Schomer ha-Zair Bewegung aktiv, in der sie ihren späteren Lebensgefährten Joel kennenlernte. Ihre beiden Schwestern, die beide Medizin studierten, waren in der kommunistischen Partei Jugoslawiens engagiert. "Das war damals modern, links zu sein, unsere Vorbilder waren die Sowjetunion und die spanische Republik. Wir stammten aus der Bourgeoisie, wir wollten aber den Sozialismus aufbauen. Allerdings nicht wie meine Schwestern in Jugoslawien, sondern in Palästina." Als glühende Sozialistin und Zionistin lehnte Edda Tandler ein "bürgerliches" Studium ab und machte eine Näherinnenlehre. Sie wollte sich auf ein proletarisches Leben in einem Kibbutz in Palästina vorbereiten.

Als Touristin reiste sie 1938 nach Palästina und heiratete pro forma einen einheimischen Juden, um die Aufenthaltsberechtigung zu erhalten. Im Kibbutz wurde sie zum ersten Mal mit der arabischen Bevölkerung konfrontiert. " Eines Tages waren wir bei der Ernte und ich sah eine Gruppe Araber mit einigem Gepäck unter einem Baum sitzen. Ich fragte, was die dort machen, und man sagte mir, daß ihr Boden von dem Kibbutz gekauft worden war. Der Boden in Palästina gehörte zum größten Teil arabischen Feudalherren, die z. B. in Paris lebten. Wenn sie ihren Boden an die Juden verkauften, mußten ihn die Fellachen, die seit Generationen darauf lebten und arbeiteten, verlassen." Edda Tandler fühlte sich in ihren Idealen verraten und verließ den Kibbutz. Sie suchte gemeinsam mit Joel Anschluß an Gleichgesinnte und fand diese bei der noch verbotenen kommunistischen Partei. Edda ging mit Joel nach Kairo, wo sie beide für das englische Radio als Sprecher und Journalisten arbeiteten.

1949 mußten sie als unerwünschte Ausländer Ägypten verlassen. Ohne Pässe – die englischen Mandatspapiere waren nichts mehr wert – mogelten sie sich nach Italien durch, wo sie neue Einreisepapiere für Israel erhielten. Beim Radio konnten sie nicht mehr arbeiten, da es noch kein Radio in Israel gab. Also begann Edda Tandler wieder als Näherin und ist in diesem Beruf bis zu ihrer Pensionierung geblieben. " Wenn du ein Gefühl für Gerechtigkeit hast, mußt du dich ganz einfach für die Palästinener einsetzen. Wir waren immer Nonkonformisten, outsider." Edda gibt ein einfaches Beispiel dafür, warum inzwischen ein großer Teil der Bevölkerung den Friedensprozess unterstützt:" Keiner will mehr, und das ist unabhängig von der politischen Grundeinstellung, bis zum 50ten Lebensjahr jedes Jahr einen Monat lang Dienst an der Waffe schieben."

Joel Tandler

"Als Tischler arbeiten ermöglicht frei zu denken. " Joel Tandler arbeitet trotz seines hohen Alters noch täglich in einer großen Tischlerei als Betriebsleiter. Die meisten der rund 80 Angestellten sind Palästinenser aus den besetzten Gebieten. "Ich bin ihre Klagemauer", sagt Joel. Die Palästinenser schätzen ihn als Humanisten, das hilft ihnen die Schranken zwischen ihrer überwiegend konservativen nationalen Gesinnung und seinem libertären internationalistischen Geist zu überwinden. Joel stammt wie Edda aus einer gutbürgerlichen jüdischen Familie. Seine Jugend in Jugoslawien verlief ganz ähnlich. Er begann als erster jüdischer Lehrling in der Gewerbeschule in Zagreb eine Schreinerausbildung und watete als Illegaler 1939 in der Nähe von Haifa an Land. Nach einem kurzen Zwischenspiel im Kibbutz – " das Kibbuz ist in meinen Augen ein Altersheim für Junge " – eröffnete sich für Joel Tandler 1941 die Möglichkeit, als Sprecher für die britische Rundfunkstation zu arbeiten.

Diese Karriere war 1949 nach dem Aufenthalt in Ägypten und der Rückkehr in den jungen Staat Israel beendet. Er begann wieder als Tischler zu arbeiten. " Ich sehe heute bei den Palästinensern die gleichen Probleme wie damals bei uns im jungen Israel. Der Nationalismus verdeckt die ungleichen Besitzverhältnisse in der Gesellschaft. Wenn man nur darauf setzt, zuerst die nationale Frage zu lösen, dann gerät alles andere ins Hintertreffen. Der Nationalismus überschattet alles Denken. 1967 haben selbst gute Sozialisten auf den Straßen getanzt und unseren Sieg gefeiert." Wie bei allen Gesprächspartnern haben sich die jüdisch- arabischen Kriege als Wendemarken tief und einschneidend in sein Gedächtnis eingegraben. Vergeblich haben Joel und Edda mit Gleichgesinnten die zahlreichen Enteignungen von arabischem Boden innerhalb Israels und in den besetzten Gebieten durch symbolische Besetzungen zu verhindern versucht. Joel Tandler hat die Hoffnung auf eine humanere Gesellschaftordnung nicht aufgegeben. " Die französische Revolution hat auch nicht alles auf einmal gebracht. Es muß global zu einer gerechteren Verteilung des Reichtums kommen."

Rückblickend auf sein Leben glaubt Joel in seinen Kindern einen Maßstab zu erkennen. Sie haben zwar eine andere politische Einstellung, dennoch rechnen sie ihren Eltern deren Ideale hoch an und sind stolz darauf, wenn Edda und Joel wieder einmal aktiv an einer Friedensaktion teilgenommen haben.

Joseph Walk

"Ich habe immer das Glück gehabt, in der Minderheit zu sein. Ich war in der Minderheit als Jude in Deutschland und als religiöser Jude unter den Juden. Ich war in der Minderheit unter den religiösen Juden, weil ich Zionist war, und ich war in der Minderheit unter den zionistisch-religiösen Juden, weil ich Sozialist war." Warum das ein Glück sei? "Die Minderheit hat den Vorteil, daß sie denken muß. Man muß immer wieder nachprüfen, ob man auf dem richtigen Weg ist."

Joseph Walk wurde 1914 in Breslau geboren. Er ist in einer zionistischen und religiösen Familie aufgewachsen. Über seinem Kinderbett hing ein Bild von Theodor Herzl. Er sieht sich als ein Glied in der langen Kette des Judentums. "Meine Vorfahren hätten es ja einfacher haben können", sagt er. "Die hätten nur über die Brücke gehen müssen, um sich der Mehrheit anzuschließen. Das haben sie nicht getan, sondern sind stattdessen bei ihrem Judentum geblieben, mit all den Schwierigkeiten. Wenn ich ausbrechen würde, dann hätte die ganze Kette umsonst gelebt." Joseph Walk unterrichtete als junger Lehrer an jüdischen Schulen in Deutschland und wanderte 1936 mit seiner Familie in Palästina ein.

Wie jeden Vormittag sitzt er in seinem Arbeitszimmer im Leo-Beck-Institut in Jerusalem, das er viele Jahre lang als Direktor geleitet hat. Das Institut wurde vor über 40 Jahren von einer Gruppe deutschstämmiger Zionisten gegründet, darunter Martin Buber und Gershom Scholem, die beide für den friedlichen Dialog mit den Palästinensern eintraten. Das Arbeitsprogramm des Instituts umfaßt die Sammlung und Bewahrung der geistigen Erbschaft des deutschen Judentums. Als Professor für Jüdische Geschichte ist Joseph Walk die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden gewohnt. Seine eigene Tochter leitet den religiösen Piratensender "Kanal 7", der ein Groß-Israel propagiert, das über den Jordan hinausreichen soll. Zusammen mit Gleichgesinnten gründete er nach dem Sechstagekrieg 1967 die Organisation "Stärke und Frieden", die zu Toleranz und Verständnis aufruft. "Es wird kein Miteinander geben, aber es kann ein Nebeneinander geben, damit es kein Gegeneinander mehr gibt." Mit seinem Engagement versucht er vor allem die religiöse jüdische Bevölkerung davon zu überzeugen, daß die politische Lösung "Land gegen Frieden" heißen muß.

Kürzlich hat Joseph Walk die Buber-Rosenzweig-Medaille für seine Verdienste um den deutsch-jüdischen Dialog erhalten. Nach dem Mord an Rabin hält es Walk für wichtig zu zeigen, daß längst nicht jeder religiöse Jude ein Extremist ist. "Vielleicht ist es gut, daß mal ein gesetzestreuer Jude (die die jüdischen Gebote befolgen, Anm. d. Verf.) mit dem Preis ausgezeichnet wird, gerade weil die meisten gesetzestreuen Juden zu dem Dialog nicht bereit sind."

Alisa Fuss

Der Holocaust hat die gesamte Familie von Alisa Fuss ausgelöscht. Sie überlebte zufällig. Als 16jähriges Mädchen nahm sie 1935 an einer Fahrt nach Palästina teil und blieb dort. Viele Jahre lebte und arbeitete sie als Lehrerin in Israel. 1976 kehrte sie nach Deutschland zurück und wohnt seitdem in Berlin, der Stadt ihrer Kindheit. Mit ihr ist ein Sohn gegangen. Ein anderer Sohn ist in Israel geblieben. Es fällt Alisa Fuss schwer, darüber zu sprechen, warum sie ihre Heimat verlassen hat. Ich habe sie kennengelernt, als sie Anfang der 80er Jahre nach der Massenflucht aus dem Libanon für das Bleiberecht der Palästinenser stritt, die illegal über Ostberlin nach Westberlin eingereist waren. "Ich setze mich ein für die Rechte der Palästinenser. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich weiß, wie es ist, wenn man herumgestoßen wird in der Welt und einem die Tore aller Länder verschlossen bleiben, wenn man sich und seinen Kindern das Leben retten will."

Viele Jahre lang hat Alisa Fuss in der Friedensbewegung in Israel für eine Aussöhnung mit den arabischen Nachbarstaaten gekämpft. Die Widersprüche innerhalb der israelischen Gesellschaft, deren schmerzliche Auswirkungen bis in die eigene Familie hinein spürbar wurden – ihr Sohn war ein Held des 6-Tage- Krieges und des Jom Kippur Krieges -, ließen sich für Alisa Fuss persönlich nicht mehr ertragen. Dennoch hat sie sich nicht wie andere enttäuscht aus dem politischen Leben zurückgezogen. In den 80er Jahren war sie im Berliner Flüchtlingsrat für Asylsuchende aktiv. Heute setzt sie sich als Mitbegründerin und derzeitige Präsidentin der Carl von Ossietzky Gesellschaft für die Einhaltung der Menschenrechte ein. "Wahre Wiedergutmachung kann sich nicht nur auf Geld beschränken. Wahre Wiedergutmachung heißt, Menschen nie wieder ihrem Verderben auszuliefern."

Hans Lebrecht

Ich besuche Hans und Tosca Lebrecht in ihrer geräumigen Wohnung im Tel Aviver Norden. Der 80jährige Hans Lebrecht stammt aus einer deutschen jüdischen Unternehmerfamilie, die dem Zionismus fern stand. Kurz nach Verbot der Kommunistischen Partei nahm er Kontakt mit ihr auf und half in der Folgezeit Vefolgten des Naziregimes bei der Flucht über die grüne Grenze. "Ich war das schwarze Schaf der Familie", lacht er. Als angeblicher Kader einer zionistischen Jugendorganisation, die Vorbereitungslager für Palästina betrieb, konnte er gegenüber den Nazis seine Reisetätigkeit im Länderdreieck Deutschland, Schweiz und Frankreich legitimieren. Doch nach der Reichskristallnacht stand auch er auf der schwarzen Liste. Sein Vater bezahlte ihm ein One-Way-Ticket, und er reiste 1938 als Tourist nach Palästina ein. Sein Vater und seine Brüder konnten in Chile und den USA Fuß fassen. Hans Lebrecht, der kein überzeugter Zionist war, reiste seiner Freundin Tosca hinterher, die er 1936 in ihrer gemeinsamen Heimatstadt Ulm kennengelernt hatte.

Die beiden schlugen sich in Palästina mit allerlei Gelegenheitsarbeiten durch, unter anderem als Erntearbeiter und Straßenmusikanten, als die sie es zu gewissem Erfolg brachten. Ende 1940 verbrachte Hans Lebrecht mehrere Monate im Knast der Engländer als politischer Gefangener. Der für die Gefängnisbücherei zuständige arabische Gefangene versorgte ihn systematisch mit marxistischer Gesellschaftstheorie. "Der Knast war meine Schule des Lebens. Ich werde nie diesen hochgebildeten, mehrere Sprachen sprechenden Palästinenser vergessen, der unermüdlich betonte, daß die Juden und Araber einen gemeinsamen Kampf gegen den Imperialismus führen müßten."

In den 50er Jahren wurde Hans Lebrecht von der aufgebrachten Zuhörerschaft beinahe gelyncht, als er sich gegen antideutsche Generalisierungen aussprach: "Bevor die Juden ins Konzentrationslager kamen, saßen schon Hunderttausende Deutsche darin." Von Anfang an beteiligten sich Hans und Tosca an Protesten gegen die Landenteignung von palästinensischen Bauern im Raum um Nazahreth. In dieser Zeit sind viele Freundschaften mit Arabern entstanden, die Hans nach 1967 als Verbindungsmann zwischen der jüdischen und jordanischen Kommunistischen Partei geholfen haben. 1978 strengte Israel gegen ihn, der sich im Rahmen der Kampagne "Zwei Staaten für zwei Völker" mehrfach mit Repräsentanten der PLO getroffen hatte, einen Prozess wegen Landesverrats an. Er mußte freigesprochen werden. Eine internationale Kampagne für seine Freilassung half ihm dabei.

Hans arbeitet bis heute als Journalist für mehrere internationale Tageszeitungen und Monatsblätter. Sein kleines Büro ist mit den modernsten Kommunikationsmitteln ausgerüstet. Per Computer, Fax-Modem und Internet ist er ständig "on-line". Auf die Frage, ob er ein hartes Leben hatte, antwortet Hans mit einem breiten Lachen:"Ja, es war hart, zugleich aber auch sehr schön."

Tosca Lebrecht

Tosca Lebrechts Vater, der als Kantor in der jüdischen Gemeinde Ulms arbeitete, war Sozialdemokrat und hatte im ersten Weltkrieg als überzeugter Deutscher mitgekämpft. Von ihrem Vater lernte Tosca Lebrecht, "daß der Zionismus und der Sozialismus nicht zusammenpassen", aber mit der einsetzenden Diskriminierung der Juden versuchten die Eltern alles, um ihre beiden Töchter in Sicherheit zu bringen. Tosca Lebrecht, die im Chor sang und eine Ausbildung als Sopranistin anstrebte, kam mit Hilfe der Zionistischen Frauenorganisation 1937 nach Palästina, zunächst in ein Kibbutz für Mädchen. Schon in den ersten Tagen wurde sie mit dem alltäglichen Rassismus konfrontiert. Als sie mit dem Bus nach Haifa fuhr, wollte eine andere Frau den Sitzplatz mit ihr tauschen, obwohl er nicht besser war. Auf Toscas Frage, warum sie den Sitzplatz tauschen wolle, entgegnete die Frau: "Weil ich nicht neben einem dreckigen Araber sitzen will". Der dreckige Araber entpuppte sich als ordentlich gekleideter junger Mann mit höflichen Manieren.

Im Kibbutz wurde sie kritisiert, als sie sich um ein junges arabisches Mädchen kümmerte. "Das Schlimmste war für mich die Entdeckung, daß in Palästina der gleiche Rassismus herrschte, dem ich ja gerade entflohen war." Tosca Lebrechts Eltern wurden ermordet. Ihre Schwester überlebte Dachau und kam 1945 nach Palästina. Sie heiratete einen marrokanischen Juden und siedelte mit ihm 1960 wieder nach Deutschland um, da sie die Herabsetzung der Orientalen in Israel nicht länger ertragen konnte. Zugunsten ihrer Schwester gab Tosca Lebrecht ihre Gesangsausbildung in Israel auf. Ihre Schwester ist heute in Deutschland eine recht bekannte Sängerin mit einem großen Repertoire von Brecht-Liedern und jiddischen Songs.

Die 78jährige Tosca Lebrecht hat ihr Leben lang kein Blatt vor den Mund genommen. In den 50er Jahren wurde sie schwer verletzt, als sie in Haifa an einer Demonstration gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands teilnahm. Das gleiche passierte ihr 1994 anläßlich einer Friedenskundgebung, die von rechten Gruppen angegriffen wurde. Tosca sitzt in ihrem lichten Wohnraum umringt von Erinnerungen und Pflanzen. Nach einer langen Pause des Schweigens drückt sie zum ungezählten Mal an diesem Nachmittag eine Zigarette im Aschenbecher aus und sagt:"Ich bin nicht als Kommunistin geboren worden, aber das Leben hat mich zu einer gemacht."

Uri Avnery

Uri Avnery wurde 1923 im westfälischen Beckum geboren. Als 10jähriger Junge kam er 1933 nach Palästina. "Aufgewachsen bin ich in einer Straße, die die offizielle Grenze zwischen Tel Aviv und Jaffa bildete. Beide Straßenseiten waren jüdisch, aber ein paar Häuserblocks weiter fing das eigentliche Jaffa – die Araberstadt – an. Als ich vierzehn war, verließ ich die Schule und ging bei einem Rechtsanwalt in Tel Aviv arbeiten. Einige Gerichte und Regierungsbehörden lagen in Jaffa, und alle paar Tage verbrachte ich dort einige Stunden, traf arabische Beamte, redete mit arabischen Kollegen, schlenderte durch die Straßen, roch die Düfte des Orients, aß arabische Süßigkeiten, lauschte der seltsamen Sprache. Ich mochte sie. Anders als die meisten Israelis von heute brauchte ich nicht erst Bücher und Manifeste zu lesen, um zu wissen, daß in diesem Land zwei Völker wohnen und daß sie hier schon seit langer Zeit Seite an Seite leben."

Als fünfzehnjähriger trat er der Irgun, der jüdischen nationalen Militärorganisation im Untergrund, bei und steckte britische Regierungsbüros in Brand. "Nach britischen Maßstäben war ich Terrorist, nach unserer Definition Freiheitskämpfer. Diese Lektion habe ich seither nie vergessen: Jeder Terrorist ist in den eigenen Augen ein Freiheitskämpfer, ein Freiheitskämpfer ist in den Augen seines Feindes stets ein Terrorist." Die Jahre in der Irgun haben Uri verstehen gelehrt, was in den Köpfen von jungen Palästinensern vorgeht, die Anschläge auf Israelis ausüben.

Als der erste jüdisch-arabische Krieg ausbrach, meldete sich Uri zur jüdischen Armee. In den letzten Kriegstagen wurde er von ägyptischen Maschinengewehrfeuer schwer verletzt. Nach dem Krieg begann er 1949 seine publizistische Laufbahn und in den 50er Jahren wurde das von ihm erworbene Wochenmagazin Haolam Hazeh zu einer wichtigen Stimme der Opposition in Israel. Obwohl er nie einen Hehl daraus machte, Zionist zu sein, unterstützte er von Anfang an die Zweistaatenlösung als einzige Möglichkeit des Friedens im Nahen Osten. Nach dem verlorenen Jom Kippur Krieg 1973 signalisierte die PLO zum ersten Mal die Anerkennung Israels und damit die Unterstützung der Zweistaatenlösung. In den folgenden Jahren traf sich Uri Avnery häufig mit PLO- Vertretern und gründete zusammen mit Gleichgesinnten Ende 1975 den Israelischen Rat für israelisch-palästinensischen Frieden. Daraus ging die kleine Scheli-Partei hervor, für die er zeitweilig als Abgeordneter im Knesset saß. Uri Avnerys Credo war und ist bis heute, daß eine breite Öffentlichkeit Israels auf den Frieden eingestimmt werden muß. Da die israelische Bevölkerung in ihrer Mehrheit zionistisch eingestellt sei, müsse die Friedensinitiative einen klaren zionistischen Charakter haben.

Auf dem Höhepunkt des Libanon-Krieges traf sich Uri Avnery mit Yassir Arafat im von der israelischen Armee belagerten Beirut. Derartige spektakuläre Aktionen haben ihn zu einem der bekanntesten Vertreter der israelischen Friedensbewegung gemacht.

Hannah Jeremias

Ich treffe Hannah Jeremias in ihrem üppig blühenden Garten an, der rundherum von Neubauten umstellt ist. "Früher konnte man von hier aus direkt ans Meer laufen, aber das ist ja nun vorbei", lacht sie. Früher, das war vor 60 Jahren, als die Strände von Nahariya wenige Kilometer südlich der libanesischen Grenze noch menschenleer waren und die Einwohnerschaft ganze 35 Seelen zählte. Damals war Hannah Jeremias mit ihrem Mann Benjamin hierher gekommen, der als Gartenbauingenieur damit beauftragt war, das Sumpfgebiet trockenzulegen und für die Landwirtschaft urbar zu machen. Heute ist Nahariya eine gepflegter Badeort für wohlhabende Touristen. "Wenn wir dieses Gelände 1942 nicht als Abfindung bekommen hätten, hätten wir uns nicht 1980 unser neues Haus hier bauen können." Bis dahin lebten die beiden in einem einfachen Holzhaus, in das jahrzehntelang Besucher aus aller Welt ein- und ausströmten.

Hannah Jeremias wurde 1911 in Berlin geboren. Schon mit 11 Jahren war sie Mitglied der jüdischen Jugendbewegung und wurde nach dem Lyzeum in die Vorausbildung für Palästina-Einwanderer vermittelt. Ihre Eltern, die bereits in Palästina gelebt hatten, wollten so schnell wie möglich nach dort zurückkehren. Hannah lernte Kinderpflege und kam 1931 nach ihrer Ankunft in Palästina in den Kibbutz Givat Brenner. Vielleicht wäre sie immer im Kibbutz geblieben, hätte nicht Benjamin plötzlich dagestanden. Die beiden taten sich zusammen und heirateten 1932. Während Hannah einen Kindergarten für die schnell wachsende Einwohnerschaft aufbaute, übernahm Benjamin zahlreiche öffentliche Verwaltungsaufgaben und kümmerte sich um die Wasserwirtschaft. In dem benachbarten arabischen Dorf Masraa ging er ein und aus und konnte durch seine Intervention 1948 die Vertreibung der Bewohner verhindern. In einer einmaligen Aktion händigte er den Palästinensern jüdische Identitäskarten aus. Aus dieser Zeit entwickelten sich für Hannah und Benjamin Jeremias lebenslange Freundschaften mit palästinensischen Familien. Sie begannen Begegnungen zwischen Juden und Palästinensern zu organisieren. Bei dieser Gelegenheit erzählte Benjamin gern, wie sehr seine Mutter in Berlin sich vor Arabern gefürchtet habe, und daß er aus Trotz gleich auf der Überfahrt nach Palästina als erstes einen Araber angesprochen habe.

In den 50er Jahren wurde ihr Haus ein Treffpunkt für die ersten jungen Deutschen, die meistens als Rucksacktouristen nach Israel kamen und die beiden dazu veranlaßten, einen Verein für internationalen Austausch und Begegnung zu gründen. 1968 fuhren Hannah und Benjamin Jeremias mit der ersten gemischten jüdisch-arabischen Jugendgruppe nach Deutschland, der noch zahlreiche weitere folgen sollten. Ihre Aktivitäten stießen nicht nur auf Zustimmung. Was wollten sie dauernd mit den Arabern, wurde mißtrauisch gefragt. "Man hat nur Angst vor dem, was man nicht kennt" meint Hannah Jeremias, die zusammen mit ihren eigenen drei Kindern eine Pflegetochter aus dem arabischen Nachbarort aufgezogen hat. Benjamin Jeremias ist 1992 gestorben. Noch heute besucht Hannah regelmäßig Freunde in den palästinensischen Dörfern Galiläas. Mitten in unser Gespräch platzt die Nachricht von dem Bombenanschlag vor dem Dizengoff-Einkaufszentrum in Tel Aviv. Es hat viele Tote und Verletzte gegeben. Wie erstorben verfolgen wir die live-Berichterstattung im Fernsehen. Die schöne Stimmung und unser Gelächter über die Witze ihres Sohnes Uri beim Mittagessen in seinem kleinen Restaurant am Strand sind verflogen wie ein ferner Traum. Plötzlich blickt mich Hannah an und sagt: "Kannst Du Dir vorstellen, so ist unser Leben als Juden und Israelis. Der Schmerz und die Freude liegen ganz nah beieinander."

Der Film

Ich werde mit allen Protagonisten das gleiche Interview zu führen, als dessen roter Faden ich Fragen zu ihrer Biographie im Kontext der Geschichte Palästinas bzw. Israels stellen werde. Beides hat sich gegenseitig beeinflußt, beides ist voneinander getrennt nicht vorstellbar. Mir geht es dabei nicht um die historische Wahrheit, sondern um die Reflexion des Erlebten in der subjektiven Erinnerung. Das Erinnern ist geprägt vom subjektiven Empfinden, das sich zudem ständig in einem Fluß der Veränderung befindet. Indem ich meinen Protagonisten die gleichen Fragen stelle, werden die Antworten Überschneidungen enthalten, die sowohl die unterschiedliche Sichtweise auf das tatsächlich Geschehene, als auch den Zusammenhang aller Dinge zeigen, und das Ganze ergibt dann ein Bild.

Meine Fragen beginnen bei der Kinder- und Jugendzeit, dem sozio-kulturellen Milieu, in dem meine Zeitzeugen aufgewachsen und zum ersten Mal mit ihrem Andersein konfrontiert worden sind. Wann war der Zeitpunkt und was waren die Ursachen für den Entschluß, nach Palästina zu gehen und die Brücken zur alten Heimat abzubrechen? So waren z. B. die Frauen unter meinen Zeitzeugen beeinflußt von der Aufbruchstimmung der 20er und 30er Jahre, die den Frauen eine sehr viel aktivere Rolle in der Gesellschaft zubilligte. Wie haben sie in Palästina Fuß gefaßt und auf welche Schwierigkeiten sind sie dabei gestoßen? Ich werde sie befragen, warum sie sich mit der Situation der arabischen Bevölkerung befaßt haben und welchen Einfluß das auf ihr Handeln genommen hat. Meine Fragen beziehen sich auf die verschiedenen Etappen der Entstehung und Konsolidierung des Staates Israel und darauf, welchen Anteil meine Zeitzeugen daran gehabt haben. Dabei spielen die fünf Kriege und die Besetzung der palästinensischen Gebiete eine ebenso bedeutsame Rolle wie die Versuche einer anfangs verschwindend kleinen Minderheit, eine friedliche Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt herbeizuführen. Meine Fragen werden auch den gewaltigen Druck thematisieren, dem meine Zeitzeugen ausgesetzt waren und immer noch sind. Und schließlich wird es darum gehen, was von den persönlichen Utopien übriggeblieben ist und welche Veränderungen der Frieden im Nahen Osten im inneren Gefüge der israelischen Gesellschaft auslösen wird.

Durch die Montage werden die Erzählungen so miteinander verschränkt, daß aus einer Reihe von Einzelschicksalen das Erlebnis einer Generation sichtbar wird. Im Gegenschnitt meiner Protagonisten entsteht ein fiktiver Dialog. Ein Beispiel, um das Verfahren deutlicher zu machen: Fast alle Protagonisten empfanden die erste bewußte Begegnung mit der einheimischen arabischen Bevölkerung als sehr einschneidend und prägend für ihr späteres Leben. In der Montage kann ich hier die unterschiedlichen Erinnerungen zum gleichen Erlebnis zu einem Kern verdichten, der sich lossagt von der mehrheitlichen Ignoranz der jüdischen Einwanderer und die historischen Ursachen für Denkblockaden benennt, die bis heute die Kommunikation zwischen Juden und Palästinensern so schwer machen.

Die Interviews werden in der alltäglichen Umgebung der Zeitzeugen gefilmt. Im Rhythmus der Erzählung werden die Stadtteile, Landschaften und Dörfer zu zeigen sein, in denen die Erzählenden seit Jahrzehnten leben, deren Teil sie inzwischen geworden sind. Eingeblendet in ihre Erzählung werden Fotos aus dem Besitz der Zeitzeugen und zusätzliches Foto- und Filmmaterial, das mir teilweise bereits zur Verfügung steht. Es gibt frühe dokumentarische Aufnahmen u.a. von dem jüdischen Fotografen und Filmemacher Helmar Lerski, der in den 30er Jahren das Leben in Palästina auf jüdischer und arabischer Seite dokumentiert hat. Sein Film über junge Menschen im Kibbutz läßt sich mit den Erfahrungen meiner Protagonisten verschränken, die fast alle ihre erste Zeit in Palästina im Kibbutz verbrachten. In den Filmarchiven in Israel und Deutschland, die sich auf die jüdische und israelische Geschichte spezialisiert haben, habe ich zahlreiches Material gefunden, das die von meinen Zeitzeugen angesprochenen Themen und Ereignisse bis in die jüngste Gegenwart dokumentiert. Dabei soll nicht nur dokumentarisches Filmmaterial verwendet werden, sondern auch einzelne Sequenzen aus Spielfilmen, die bestimmte Zusammenhänge deutlich machen: So läßt sich die Erzählung einzelner Kriegsereignisse und ihrer Folgen für das israelisch-palästinensische Verhältnis mit einer Montage aus kurzen Spielfilm- und Dokumentarfilmausschnitten verschränken, wobei sich die verwendeten Spiel- und Dokumentarfilmeinstellungen gegenseitig ergänzen.

"Erinnerung ist nicht die Wahrheit, Erinnerung verändert sich ja ununterbrochen. Sie ist nicht das, was gewesen ist, sondern das, was ich mir einbilde oder was ich möchte, daß es gewesen ist." (Eberhard Fechner)

Indem ich meine Zeitzeugen ihre Sicht der Geschichte Palästinas und Israels erzählen lasse, bilde ich die Wirklichkeit ab, so wie sie von ihnen subjektiv erlebt worden ist. Und aus der Summe der subjektiv erlebten Wirklichkeiten entsteht die Suche nach der Wahrheit, der Versuch, sich der Realität – als Zusammenhang von persönlicher und allgemeiner Geschichte – ein Stück weit anzunähern.

Robert Krieg, Köln, März 1996

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