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„We will emancipate society!“

Das Experiment Rojava

Das antihierarchische, konföderale Demokratiemodell, dass die Kurden in Rojava im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei ins Leben gerufen haben, ist ein authentischer Gegenentwurf zu den Kräften im nahöstlichen Raum. Die Vehemenz und Gewalttätigkeit, mit der der autoritäre türkische Staat darauf reagiert, lässt erahnen, wie sehr er sich davon in Frage gestellt sieht und befürchtet, dass der Funke dieser ideellen und teilweise bereits vorgelebten Radikalität, mit der die Menschen in Rojava den kulturellen Wandel vorantreiben, auf die eigene Gesellschaft überspringen könnte. In der Bedeutung, die dieses Projekt der Emanzipation der Frauen zuschreibt, entdecke ich vieles von dem wieder, dass ich in den letzten Jahrzehnten bei den politisierten palästinensischen und sahrauischen Frauen beobachten und teilweise filmen konnte. Darauf möchte ich mein Hauptaugenmerk richten: Welche Rolle spielen die Frauen in diesem einzigartigen Projekt. Ich bin sicher, dass die Aufbruchsstimmung, die darin steckt, trotz aller Rückschläge langfristig ihre Spuren hinterlassen wird, - in den Köpfen und Herzen der einzelnen, aber auch darüber hinaus in der Region. Mich interessieren nicht die Stellungnahmen von Funktionär/innen, Politiker/innen, Ideolog/innen oder hohen Funktionsträger/innen. Mich interessiert der Krieg und der Kombattanten-Status nur insofern, als er Teil des erzwungenen Alltags ist. Viel wichtiger für den Film sind die Projekte und Strukturen, die im Aufbau oder bereits verwirklicht sind: die basisdemokratische Selbstverwaltung, die in der Nachbarschaft beginnt, die Reorganisation der Ökonomie und Versorgung in Kooperativen, das multiethnische, multi-kulturelle und multi-religiöse Konzept der Schulen, Bildungseinrichtungen und Kulturzentren, die Frauenzentren, die Gerechtigkeitszentren, die nicht einen Schuldspruch, sondern eine Versöhnung anstreben.

Natürlich sollen die Widersprüche beim Aufbau einer neuen Gesellschaft im Film deutlich werden: Der Widerspruch von Privat- und Gemeineigentum; der jahrhundertealte Einfluss tribaler, patriarchalischer und religiöser Herrschaftstechniken; der Widerspruch von einer basisdemokratischen Rätestruktur und einem tradierten Parteiensystem, das bisher die politische Macht ausübte; die Konfrontation der Geschlechter mit einem neuen Rollenbild der Frau. Das kann nicht ohne Reibungen und Widerstand vorangehen. Offensichtlich finden die großen Umwälzungen weitgehend ohne Zwang statt, der vorhandene Privateigentum bleibt unangetastet, und die Menschen rühmen sich, dass kein Blut vergossen wurde.

Eine Kernfrage, die mich seit Jahrzehnten umtreibt, bleibt für mich die Rückkehr der Kombattanten und Kombattantinnen in zivilgesellschaftliche Strukturen: Wie kann verhindert werden, dass die Logik einer notwendigerweise hierarchisch angeordneten Kommandostruktur ihre autoritären Spuren einer Gesellschaft aufdrückt, die sich zu radikaler Demokratie verpflichtet hat? Oder ist es möglich, dass eine Gesellschaft im Krieg, wie Janet Biehl* schreibt, ihren Menschen mehr demokratische Freiheiten zugestehen muss, um sie für den Widerstand gegen IS und das türkische Militär mobilisieren zu können?

In den nach wie vor besetzten palästinensischen Gebieten ist die Entwicklung einer Zivilgesellschaft, die wirksamen politischen Einfluss nimmt, praktisch gescheitert. Eine Unzahl internationaler NGOs hält ihre Reste künstlich am Leben. Das Resultat ist eine Entpolitisierung, der Rückzug ins Private. Wird Rojava eine andere Zukunft haben?

 

* Janet Biehl war Murray Bookchins Lebensgefährtin und Mitarbeiterin. Murray Bookchins Schriften zu einem kommunitären, rätedemokratischen Gesellschaftsmodell sind die zentrale Inspirationsquelle für das Projekt Rojava
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