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Warum dieser Film?

Europa wächst zusammen, aber was wissen wir über Europa? Die meisten von uns kennen Europa aus der Perspektive der Urlaubsreise. Die attraktiven Strände, Gebirge, Ebenen, grünen Wälder oder Städte mit Geschichte ziehen uns an. Wir wissen vielleicht noch etwas Kulturhistorisches über die einzelnen Regionen und ihre Menschen, aber gelebte Geschichte wird erst erfahrbar in der unmittelbaren Berührung mit den Menschen. Am wenigsten wissen wir über die Dörfer, ja selbst über unsere eigenen Dörfer können wir kaum etwas sagen. Das Dorf steht für Beständigkeit, die Stadt ist im ständigen Wandel begriffen. In einem Dorf geht man anders um mit dem Neuen, dem Fremden als in einer Stadt. Das Dorf reagiert anders auf die Welt da draußen, von der die Stadt immer schon ein Teil ist. Und immer schwingt der Gedanke der Romantik mit, daß man auf dem Lande noch in Eintracht mit Gott lebt, während die Stadt den Gefährdungen des Teufels ausgesetzt ist. Aber auch ein Dorf kann sich nicht vor den Veränderungen bewahren, die die Umbrüche Europas und der Welt hervorrufen.
In unserem Film geht es um die Innenwelt eines italienischen Dorfes und wie die äußere Welt in dieses Dorf eingedrungen ist und es verändert hat. Bis heute sind besonders in den südeuropäischen Ländern die Unterschiede zwischen Stadt und Land spektakulär. Die italienische Geschichte ist geprägt von der großartigen Entwicklung städtischer Kulturen, umso dramatischer der Bruch zum Land, das bis in die jüngste Zeit in mittelalterlichen Zuständen verharrt hat. Erst die großen Landreformen in den 30er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts hat der unumschränkten Herrschaft der Großgrundbesitzer ein Ende gesetzt und die Landbewohner aus einem fronähnlichem Dasein befreit. Diese Rückständigkeit hat der Schauspieler und Regisseur Totó in seiner Satire "Destinazione Piovarolo" auf's Korn genommen. Er suchte und fand das Dorf Mazzano und seine Bewohner, die seinem Drehbuch entsprachen. In der Folge wurde das Dorf und seine Umgebung ein gesuchter Drehort. Für die Bewohner eröffnete sich ein ungewohnter neuer Blick, die Realität des Dorflebens verschränkte sich mit den Traumwelten des italienischen Kinos. Nicht zuletzt durch die Welt des Kinos hat sich das Tor zur Welt geöffnet.
In den letzten 50 Jahren hat eine rasante Entwicklung stattgefunden. Mit dem Landbesitz ist Kapital ins Dorf gekommen, und neue berufliche Möglichkeiten eröffneten sich. Zwei Generationen später will niemand mehr eine bäuerliche Existenz. Ist der trotzige Versuch einiger, das ererbte Land weiterzubebauen, ein Beweis ihrer Engstirnigkeit oder aber ein Versuch, das Alte im Neuen zu bewahren? Stadt und Land wachsen zusammen. Die Ausläufer der Stadt kriechen mit Schnellstraßen, Einkaufszentren und Wohnsiedlungen bis an die Ränder der Dörfer heran. Neue Menschen ziehen ins Dorf. Zu den eingesessenen Familien stoßen Römer, Ausländer und in den letzten Jahren verstärkt Immigranten, Menschen, die großenteils illegal in Italien leben.
Aus dem Auswanderungsland Italien ist ein Einwanderungsland geworden. Wo früher in den Dörfern nur die Alten zurück blieben, während die Jungen auf der Suche nach Arbeit in den Norden zogen, füllen sich heute die Dörfer mit Fremden, anderen Kulturen und unbekannten Lebensgewohnheiten. Aus dem Dorf ist ein Mikrokosmos geworden, der die ganze Vielfalt, aber auch die Zerrissenheit Europas wie unter einem Brennglas bündelt.
Die sprichwörtliche Toleranz der Italiener und das Laissez-faire-Prinzip der halbstaatlichen und staatlichen Institutionen vermischen sich zu einem undurchschaubaren Ganzen. Was sich kurzfristig für neue Bewohner, Ausländer und Fremde, als vorteilhaft erweisen mag, wird längerfristig sehr negativ zu Buche schlagen, wenn die herkömmlichen Strukturen keine Verhaltensmuster mehr bieten und vorhandene, traditionelle Integrationskräfte überfordert sind.
Wie geht man in der kleinen Welt des Dorfes mit dem Fremden, dem Neuen und dem Andersartigen um? Ganz sicher verläuft die Begegnung anders als in der Stadt. Ist sie konfrontativer? Erlebt man sie als Bereicherung? Gibt es Integrationsmechanismen oder entwickeln sich innere Grenzzäune und neue Trennlinien? Halten die sozialen Netze der Dorfgemeinschaft die neuen Belastungen aus? Welche eigene Geschichte hat man entgegenzusetzen? Und welche Rolle spielen dabei auch die Geschichten der eigenen Emigration und von Versuchen, in der Fremde eine Existenz aufzubauen?
Der Film versucht das, was den Menschen in Mazzano an ihrer Geschichte wertvoll erscheint, zu bewahren und sie zugleich zu dem Neuen, Unbekannten zu befragen, das an ihren Besitzständen und Überzeugungen rüttelt.
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