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Einführungsvortrag zum Filmabend in Würzburg, 2017

Ich habe den Part eines kurzen Einführungsvortrags[1] im Rahmen des Ausstellungsbegleitprogramms und heutigen Filmabends sehr gerne übernommen. Warum wird, denke ich, rasch deutlich werden, wenn ich im Folgenden einige einführende Schlaglichter (fünf an der Zahl) auf jenen Film werfe, den wir uns hier gleich zusammen anschauen und anschließend sicher auch noch etwas diskutieren.
‚Überlänge‘ - um es in der Kinosprache zu sagen – soll vermieden und die ‚Film-Spannung‘ soll möglichst erhalten bleiben. Inhaltliche Vorwegnahmen im Detail entfallen aber auch deshalb, weil der Dokumentarfilm „Lebensunwert. Paul Brune. NS-Psychiatrie und ihre Folgen“ von Robert Krieg und Monika Nolte aus dem Jahre 2005 meines Erachtens in hohem Maße ‚selbsterklärend‘ ist, also eine klare/klar verständliche narrative Struktur und Bildsprache hat.

I.

Mit meinem ersten Schlaglicht möchte ich als Historiker zunächst die Bedeutung der Filmreihe des hiesigen Instituts für Geschichte der Medizin als Beitrag zur „Visual History“/zur „Visuellen Geschichte“ unterstreichen. Die Geschichts- und Kulturwissenschaften (und damit auch die Medizin- und Psychiatriegeschichte) haben visuelle Quellen (also Fotos und Filme) lange vernachlässigt. Bilder wurden vor allem als ergänzendes Beiwerk/als Illustrationsmaterial verwendet. Doch hat mittlerweile ein Umdenken/eine ’Kurskorrektur‘ eingesetzt, deren Gründe ich hier allerdings nicht im Einzelnen nachzeichnen kann.

Jedenfalls gelten Bilder mittlerweile als „Aktivposten“ (Katharina Stütz) in Verlauf und Deutung historischer Prozesse. Sie spiegeln und ‚machen‘ auch selbst Geschichte, d.h. sie prägen die kollektiven Selbst- und Fremdwahrnehmungen in einer Gesellschaft entscheidend mit.

Die laufende Filmreihe zur Geschichte des NS-Krankenmords ordnet sich meines Erachtens sehr produktiv in das Feld der ‚Visual History‘ ein:

Sie macht ein breiteres Publikum (am Beispiel des NS-Krankenmords) mit psychiatriehistorisch und -fachlich relevanten Filmquellen/-dokumenten bekannt. Sie bietet Gelegenheit, die ‚Macht‘ von Bildern aufzuzeigen, aber gleichzeitig kritisch zu hinterfragen - insbesondere auch mit Blick auf visuelle Konstruktionen, Inszenierungen und Manipulationen. Und sie kann dafür sensibilisieren, dass mit einem Kinobesuch sogleich noch eine weitere ‚Konstruktionsleistung‘ ins Spiel kommt: Gemeint ist jener Prozess, der ablaufen wird, wenn sich Ihr Blick gleich auf den Dokumentarfilm über Paul Brune richtet. Jede oder jeder Einzelne von Ihnen wird sich beim Sehen assoziativ wiederum ihr oder sein eigenes ‚Bild‘ machen – eben je nach den persönlichen, lebensgeschichtlich und kulturell vorgeprägten Vorerfahrungen, Erwartungen und Perspektiven.

Soweit mein erstes Schlaglicht.

II.

In einem zweiten Schritt möchte ich hervorheben, was das Besondere und Innovative gerade des heutigen Films ausmacht, was also gewissermaßen sein ‚Alleinstellungsmerkmal‘ war und ist: Erstmals wurde hier am Beispiel der Lebensgeschichte eines einzelnen Betroffenen, eben des Schicksals von Paul Brune, systematisch ein filmischer Bogen geschlagen von der NS-Zeit (mit ihren Psychiatrieverbrechen im Zeichen von massenhaften Zwangssterilisationen und Krankenmorden/Stichwort: ‚Euthanasie‘) über das Kriegsende/die politische Zäsur von 1945 hinaus bis (weit) in die westdeutsche Nachkriegsgeschichte hinein!

Und mit diesem ‚Brückenschlag‘ ging auch ein erweiterter/vertiefter Blick auf die Kontinuitäten zwischen ‚Drittem Reich‘ und Bundesrepublik einher: Der bekannte – und im Film praktisch noch einmal bestätigte! – Befund eines skandalösen beruflichen Fortwirkens vieler Parteigänger und Vollstrecker der NS-Politik (Stichwort: „Was sie taten – was sie wurden“!) wurde ergänzt durch die Beobachtung, dass auch die besonders bedrohliche und leidvolle Erfahrungsgeschichte der psychisch erkrankten oder geistig behinderten Menschen mit und nach 1945 keineswegs an ihr Ende gelangte. Im Gegenteil: Auch in der Zeit des Wiederaufbaus und des so genannten ‚Wirtschaftswunders‘ verblieben sie mehrheitlich in einer krassen Randgruppen-Situation. Sie wurden und waren weiterhin unter meist menschenunwürdigen Bedingungen praktisch hinter Anstaltsmauern ‚weggesperrt‘ und als ‚unnormal‘, ‚verrückt‘ oder ‚behindert‘ abgestempelt.

Mit diesem perspektivischen Zugriff auf das Thema war und ist eine weitere Besonderheit und Innovation verbunden, die weniger die „Machart“ des Films betrifft – „die war ziemlich klassische Fernseh-Dokumentation“ (so Robert Krieg in einem Gespräch mit mir) – als vielmehr die filmische Rolle des Betroffenen Paul Brune: Anstelle der sonstigen wissenschaftlichen Experten kommt Brune selbst zu Wort – und dies eben nicht nur als Repräsentant einer Opfergruppe, sondern auch mit eigener analytischer Kraft, die „Betroffenheit und Expertise“ gewissermaßen „in einer Person vereinigt“ (Robert Krieg)!

III.

Die Einrichtungen/Institutionen, an denen der Brückenschlag und die Kontinuitäten in besonderer Weise festgemacht werden, lagen und liegen – drittes Schlaglicht – in Westfalen/Nordrhein-Westfalen. Hier führte der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) nach 1945 in der Tradition des vormaligen Provinzialverbandes Westfalen ein großes Netz alter Heilanstalten fort. Sie gehören heute als LWL-Kliniken zum so genannten „PsychiatrieVerbund Westfalen“. Aus der Reihe ihrer Vorgänger rücken im Film vor allem die damalige Provinzialheilanstalt Dortmund-Aplerbeck sowie das kinder- und jugendpsychiatrische St. Johannes-Stift im sauerländischen Marsberg näher in den Blick. Beide Häuser gehörten im ‚Dritten Reich‘ zu den lokalen/regionalen Tatorten der NS-„Kindereuthanasie“.

Die NS-„Euthanasie“-Morde bildeten ein äußerst komplexes Verbrechen, zu dem eben auch – parallel zur Erwachsenen-„Euthanasie“-„Aktion T4“ und anderen Verbrechensbereichen – die reichsweite Beseitigung behinderter Säuglinge und Kinder gehörte. In Westfalen begann der psychiatrische Mord an Minderjährigen im Winter 1940/41 am St. Johannes-Stift und wurde dann bis Kriegsende auf einer Kinderstation der Anstalt Dortmund-Aplerbeck fortgesetzt. Die Begutachtungs- und Mordstationen liefen auch hier unter der beschönigenden/zynischen Tarnbezeichnung „Kinderfachabteilung“. Zwar überlebte Paul Brune seine 1943 erfolge Einweisung in die Dortmunder Kinderfachabteilung, doch der anschließende langjährige Aufenthalt im St. Johannes-Stift ging mit weiteren Gewalterfahrungen einher.

IV.

Der Film – dies soll mein viertes Schlaglicht sein – bietet aber nicht nur eine am Einzelbeispiel vorgenommene/präsentierte retrospektive visuelle Dokumentation der NS-Psychiatrie und ihrer Folgen. Er markiert auch seinerseits bereits ein Stück Geschichte – eben der Geschichte des gesellschaftlichen Umgangs mit der ‚braunen‘ Vergangenheit im Allgemeinen und den NS-Medizinverbrechen im Besonderen zwischen 1945 und heute! Seit den 1980er und 1990er Jahren vollzog sich auf diesem Feld allmählich ein signifikanter Wandel – ein Wandel, der für ein demokratisches Gemeinwesen wie die Bundesrepublik allerdings auch lange ‚überfällig‘ war:

Die wissenschaftliche Erforschung und erinnerungskulturelle Verankerung der NS-Psychiatrieverbrechen wurde jetzt (vor allem von einer jüngeren Generation) systematischer in Angriff genommen und vorangebracht. Und gewissermaßen in einem ‚zweiten Schritt‘ bekamen dann auch die Opfer von Erfassung, Verfolgung und Vernichtung mehr und mehr ein Gesicht (durch Bücher, Ausstellungen, Gedenkstätten/Mahnmale, „Stolpersteine“ etc.). Ihren Lebensgeschichten und Schicksalen wurde und wird wachsende Aufmerksamkeit und Empathie entgegengebracht, ihrem Bedürfnis nach Gehörtwerden, nach Entschuldigung und Entschädigung stärker Rechnung getragen. Der Film von Robert Krieg und Monika Nolte ist nicht nur Spiegelbild des beschriebenen Wandels, sondern hat diesen selbst mit vorangebracht!

Durch die Fokussierung auch auf die Gewalterfahrungen Paul Brunes im St. Johannes-Stift der Nachkriegszeit hat der Film von 2005 schließlich gleichzeitig zum damaligen Aufkommen des kritischen Diskurses über die Situation der Heimkinder in der frühen Bundesrepublik mit beigetragen.

V.

Damit komme ich zu meinem fünften und letzten Schlaglicht: Filmische und andere kulturelle Repräsentationen des Themas „NS-Krankenmord“ sind das eine. Das andere – und dafür bietet eine Veranstaltung wie heute eben auch Gelegenheit – ist das Nachdenken über die Frage, welche Impulse der Geschichte und Erinnerungskultur eigentlich für den heutigen Umgang mit den Themen Leben/‘Lebenswert‘, Gesundheit, Behinderung, Anderssein‘, Krankheit und Tod, Inklusion und Exklusion, entnommen werden können oder sollten. Diese Frage hat noch dadurch an Gewicht gewonnen, dass ja die Zahl der noch lebenden Zeitzeugen immer kleiner wird.

„Wie [aber] bleibt Vergangenheit lebendig, wenn die biographischen Bezüge fehlen?“ (Navid Kermani) Der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani spricht – am Beispiel des Holocaust – von einer „Zäsur, die noch nicht genügend ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist: Sehr bald werden die letzten Überlebenden von Auschwitz gestorben sein. Und nicht nur die Überlebenden verstummen, sondern überhaupt alle Zeitzeugen, Opfer, Verbrecher, Mitläufer, Unbeteiligte, Widerständler.“ („Auschwitz morgen – Die Zukunft der Erinnerung“, in: FAZ v. 7. Juli 2017)

Ich jedenfalls verstehe beide Dinge, Vergangenheitsbezug und aktuelle Herausforderungen heute, immer als zwei Seiten ein und derselben Medaille! Und vielleicht kommen wir in der anschließenden Diskussion ja auch noch einmal auf diese Frage und mögliche Antworten zurück.

Prof. Dr. Franz-Werner Kersting

Prof. Dr. Franz-Werner Kersting ist Wissenschaftlicher Referent am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte und außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Universität Münster.

Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören:

– die Jugend- und Generationengeschichte
– die Visual History
– die Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik
– die Geschichte der Stadt-Land-Beziehungen
– und vor allem auch die Psychiatriegeschichte.

Aktuelle Beispiele für seine Aktivitäten auf diesem Forschungsfeld sind:

– das gerade abgeschlossene Institutsprojekt (zs. mit Hans-Walter Schmuhl): „Psychiatrie- und Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen im St.Johannes-Stift in Marsberg (1945-1980). Anstaltsalltag, individuelle Erinnerung, biographische Verarbeitung“;

– die Herausgabe (2016) von: Waltraud Matern, Sozialarbeit in der Psychiatrie. Erinnerungen an den Reformaufbruch in Westfalen (1960-1980) (erschienen im Ardey-Verlag in Münster)

– die Mitarbeit in der Historischen Expertenkommission der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zu dem DGPPN-Forschungsprojekt „Die Psychiatrie in Deutschland nach 1945“

[1] Einführungsvortrag zum Filmabend „‘Lebensunwert‘ – Paul Brune. NS-Psychiatrie und ihre Folgen“ am 10. Juli 2017 im „Programmkino Central im Bürgerbräu“ in Würzburg im Rahmen der Veranstaltung „Filme zur Geschichte des NS-Krankenmords“.
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