Wenn der Terror die Oberhand gewinnt
Ein Blick aus Rojava auf den neuen Gaza-Krieg
In den letzten Monaten wird es einem besonders schwer gemacht, einen klaren Kopf zu bewahren und sich nicht von Emotionen hinreißen zu lassen.
Am 7. Oktober 2023 verübte die islamistische Terrororganisation Hamas auf die Menschen im Süden Israels einen Überfall, bei dem 1.200 israelische Frauen, Kinder und Männer auf brutalste Weise ermordet und mehr als 200 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt wurden. Wenige Tage später folgte auf den Überfall der Hamas der Angriff der israelischen Armee auf den Gaza-streifen mit dem erklärten Ziel, die Hamas zu vernichten. Dabei wurden große Teile des Gazastreifens dem Erdboden gleichgemacht, bisher über 13.000 palästinensische Frauen, Kinder und Männer getötet und Hunderttausende in den Süden des Gaza-streifens vertrieben.
Ein nüchterner Blick zurück auf den nicht enden wollenden Krieg zwischen Israel und der palästinensischen Bevölkerung muss sich die Ursachen vergegenwärtigen. Die nun 75 Jahre andauernde ausweglose Situation der Bevölkerung im Gazastreifen hat die Wut hervorgebracht, die sich jetzt wieder und nicht zum ersten Mal in Unmenschlichkeit äußerte. In diesem großen, bis 2006 von Israel und seit 2007 von der Hamas kontrollierten „Freiluftgefängnis“ haben junge Menschen bis auf wenige Ausnahmen – wenn sie hilfsbereite Verwandte anderswo haben – keine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Sie empfangen von den Vereinten Nationen (UN) das Minimum zum Überleben und haben keine Möglichkeit, sich zu entwickeln, einfach etwas Sinn-Stiftendes mit sich anzufangen. Da staut sich bei vielen eine ungeheure Ohnmacht auf, die irgendwann einen Hass entfesselt, der keine Kontrolle und Grenzen mehr kennt. Diese jungen und im Lauf der langen Jahre älter gewordenen Menschen haben einfach nichts mehr zu verlieren. Jeden Tag zeigen ihnen ihre Lebensumstände aufs Neue, dass ihr Leben keinen besonderen Wert hat. Das ist der Kern des Verlusts von Menschenwürde, der subjektiv empfunden sich nach außen kehren kann und anderen Menschen, die als Feinde, als Verursacher der eigenen ausweglosen Lage gesehen werden, nun auch die Menschenwürde wegnehmen will.
Das Furchtbare daran ist, dass Menschen, die zu Macht und Einfluss gekommen sind, sich diesen Hass für ihre eigenen Zwecke zunutze machen. Diese Zwecke sind IMMER auf die Erhaltung und Ausweitung der eigenen Macht gerichtet. Die Hamas ist ein solches Ungeheuer: geboren aus der Muslim-Bruderschaft und beim Aufwachsen tatkräftig vom israelischen Geheimdienst gefüttert und unterstützt, um den früher klar vorherrschenden laizistischen palästinensischen Widerstandsbewegungen etwas entgegenzusetzen und die Bewegung zu spalten. Israel gab Sheik Ahmed Yassin, dem Nachfolger des unter Nasser 1966 hingerichteten intellektuellen Kopfs der Muslim-Bruderschaft, Sayyid Qutb, freie Hand. Yassin gründete die islamistische Gruppe Mujama al-Islamiya, die von Israel 1979 offiziell als Wohlfahrtsverband anerkannt wurde. Er baute ein Netzwerk von Schulen, Kliniken, Kindergärten und Büchereien im Gazastreifen auf, um die Bevölkerung für sich zu gewinnen. Es gibt eine Menge Fakten, die das belegen und ich habe diese Entwicklung in den 90er Jahren persönlich miterlebt. Der Spaltungsprozess ist umfassend gelungen, mit allen grausamen Folgen.
Allerdings hat Israel den gleichen fatalen Fehler begangen wie die USA in Afghanistan: „Aus Jassins Mujama wurde die Hamas, die man als Israels Taliban bezeichnen kann: eine islamistische Gruppe, deren Wurzeln vom Westen im Kampf gegen einen linken Feind gelegt worden waren.“ (1) Damals war es für die USA unvorstellbar, dass die Taliban, die die sowjetische Armee zur Kapitulation zwangen, ihnen Jahrzehnte später das gleiche Schicksal bereiten würden.
Die Hamas ist ein Spielball der Mächte, die den westlichen Hegemonialbestrebungen im Nahen Osten Einhalt gebieten wollen. Ein kluger, alter linker Kurde erzählte mir bei meinem jüngsten Aufenthalt in Rojava, der Region in Nord- und Ostsyrien, dass bei der Sotschi-Konferenz 2021 für die Teilnehmer-Staaten Russland, Türkei und Iran die Einhegung des westlichen Einflusses auf den Nahen Osten eine zentrale Rolle spielte. Iran wurde dabei in seiner Rolle als Unterstützer der radikal islamistischen Kräfte Hamas und Hizbollah bestätigt.
Wenn man gleichzeitig beobachten kann, wie sehr die Türkei als NATO-Mitglied vom westlichen Militärbündnis hofiert wird, versteht man, dass es auf allen Seiten der Fronten um die Durchsetzung von hegemonialen Interessen geht, die wenig bis gar nichts mit den Hoffnungen und Wünschen der Menschen im Nahen Osten zu tun haben. Im Oktober 2023 hat die Türkei systematisch die Infrastruktur in Rojava zerstört (vgl. Artikel von Michael Wilk in dieser GWR), – letztlich, um die Menschen zur Flucht zu bewegen – und den Aufbau einer demokratischen Ordnung unter Einbeziehung der Gleichberechtigung der Frauen zu stoppen, denn das bedroht die unter Erdoğan errichtete Autokratie am meisten. Das sind Kriegsverbrechen, die das humanitäre Völkerrecht außer Kraft setzen. Sie werden von Deutschland und Europa stillschweigend geduldet, da man es sich nicht mit der Türkei verscherzen will.
Ab 1993 sah es für eine kurze Zeit danach aus, dass der Konflikt zwischen Israel und der palästinensischen Bevölkerung in den von Israel völkerrechtlich rechtswidrig besetzten Gebieten friedlich beendet werden könnte. Yitzhak Rabin hatte als erster verstanden, dass der Konflikt nicht mit Gewalt zu lösen war. Seine Reputation als hochrangiger Militär überzeugte die Mehrheit der Menschen in Israel, seinen Weg des Friedens mitzugehen. Seine Ermordung am 4. November 1995 durch den rechtsradikalen Israeli Jigal Amir während einer der größten Versammlungen der israelischen Progressiven, die ich persönlich miterleben konnte, hat dem von Yitzhak Rabin und Yassir Arafat angestrebten Friedensprozess ein Ende gesetzt. Die Gewinner waren die rechtsnationalistischen, religiös-fundamentalistischen und faschistischen Kräfte auf der einen und die radikal-islamistischen Kräfte auf der anderen Seite.
1994 erschoss der jüdische Arzt und Siedler Baruch Goldstein 29 Muslime in einer Moschee in Hebron. Goldsteins Selbstmordattentat war der Auftakt und Beispielgeber für die in den Jahren darauf folgenden mörderischen Angriffe auf die israelische Zivilbevölkerung, die es in dieser Form zuvor noch nie gegeben hatte. Goldstein und Amir werden bis heute von Teilen der israelischen Bevölkerung als Helden gefeiert.
Die mit dem Krieg in Gaza einhergehende Repression der Menschen in den besetzten Gebieten hat eine Eskalationsstufe erreicht, die das Leben unerträglich macht. Viktor K. ist ein alter Freund. Er ist christlicher Palästinenser und lebt in der Nähe von Bethlehem. Als Krankenpfleger arbeitet er seit Jahrzehnten im Operationssaal des bedeutenden Hadassah Krankenhauses in West-Jerusalem. Nun muss er jeden Tag mit seiner Entlassung rechnen. Der tägliche Weg über die Grenze ist zu einer Höllentour geworden. Für ihn stand immer fest, dass sein Platz in die palästinensische Community auf der Westbank gehört. Die meisten seiner Geschwister leben in Deutschland und den USA. Nun denkt er zum ersten Mal ernsthaft darüber nach, seine Heimat für immer zu verlassen.
Israel ist bis heute aus Sicht vieler Araber:innen ein Fremdkörper im Nahen Osten geblieben. Progressive Jüdinnen und Juden wie Judith Bernstein wissen, dass Israel langfristig nur dann im Nahen Osten ankommt, wenn die israelische und die palästinensische Bevölkerung gleichberechtigt Seite an Seite leben wird. Für diese Haltung werden sie in Deutschland mundtot gemacht: „Was heißt Solidarität mit Israel – mit welchem Israel? Das Israel von Netanyahu, das mit den Siedlern in der Westbank das vollendet, was 1948 begann – die Säuberung der palästinensischen Gebiete, oder mit den Friedensgruppen? (…) Mit genau dieser Politik haben Deutschland und der Westen dafür gesorgt, dass die Zukunft Israels im Nahen Osten immer unsicher bleiben wird und wir Juden wieder einmal als der ‚Ewige Jude‘ abgestempelt werden.“ (2) Der Gaza-Krieg bedroht den Weltfrieden ernsthaft. Weltweit entsteht eine Welle des Hasses, die sich unkontrolliert entladen kann und damit vor allem Jüdinnen und Juden bedroht.
Rojava gibt Anlass zur Hoffnung
Ermutigend ist für mich die ungeheuerliche Kraft und Widerständigkeit der Menschen – und besonders der Frauen –, die sich für ein friedliches und gleichberechtigtes Miteinander einsetzen, auch wenn sie Opfer in der eigenen Familie zu beklagen haben. Ich habe in Rojava sehr konkret miterlebt, wie großartig das Leben sein könnte, wenn emanzipatorische Bewegungen die Oberhand gewinnen können, anstatt Kräfte, die ohne Rücksicht auf Verluste nur ihre eigene Gier befriedigen wollen.
Robert Krieg
Aus: graswurzelrevolution 484, Dezember 2023.
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(1) Ishaan Tharoor, „How Israel helped create Hamas“, Washington Post, 30. Juli 2014
(2) Judith Bernstein, „Eine verpasste Chance – Meine Gedanken zum Krieg zwischen Israel und Hamas“, Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe, 17. Oktober 2023
Externe Referenzen
Quelle