Kultur und nationale Identität
Zur Relevanz von demokratischen Medienprojekten in Entwicklungsländern
Dem Land seine eigenen Bilder geben, – dieser Aufruf, der einmal während der 60er Jahre die Aufbruchstimmung in der Filmlandschaft Deutschlands charakterisierte, ließ sich 25 Jahre später unter völlig unterschiedlichen politischen Voraussetzungen auf die Situation der Palästinenser in den besetzten Gebieten Palästinas übertragen. Der Aufstand der Palästinenser gegen die israelische Besatzung flimmerte fast täglich weltweit über die Mattscheiben, doch die Bilder und die Sichtweisen waren nicht die eigenen. Das war der Anlaß für unser Medienprojekt, das mit der Ausbil-dung einiger palästinensischer Fernsehjournalisten und Fernsehtechniker begann und Mitte der 90er Jahre im Aufbau der ersten nationalen Rundfunkstation für die palästinensischen Gebiete mündete. Palästinensische Film- und Fernsehschaffende lebten und arbeiteten bis dahin fast ausnahmslos entweder im Ausland oder aber waren in Israel aufgewachsen, es gab in den palästinensischen Gebieten so gut wie keine eigene Film- und Rundfunkkultur. Man hörte und sah sich die Programme der umliegenden arabischen Staaten und das israelische Rundfunkprogramm an. Die Palästinenser verfügten nur über einige Print-Medien, die obendrein von der israelischen Militärverwaltung zensiert wurden.
Der Aufstand der Palästinenser, der zu dem Osloer Abkommen führte, das erstmals einen eigenen palästinensischen Staat in Aussicht stellt, hat außer dem Willen nach Freiheit und Selbstbestimmung noch etwas anderes deutlich gemacht: Es gab und gibt eine palästinensische Identität, die durch die nun schon 30jährige Besatzung eher bestärkt als geschwächt worden ist. Was es bisher nie gab und was unter den derzeitigen politischen Bedingungen immer noch sehr fragwürdig erscheint, das ist der eigene Nationalstaat mit klaren, definierten Grenzen. Die überwältigende Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung ist der Ansicht, daß sie ihre kulturelle Identität nur in einem eigenen Nationalstaat behaupten kann. Der iden-titätsstiftende Gedanke der nationalen Einheit ist inzwischen in der palästinensischen Öffentlichkeit auch mit Hilfe der Medien zur Leitidee für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung geworden, alle weiteren Wertvorstellungen sind dem untergeordnet und werden in ihrer Bedeutung daran gemessen.
Dieser Prozess ist nicht bruchlos verlaufen. Das Verhältnis zu Israel war und ist äußerst ambivalent. Einerseits ist Israel die verhaßte Besatzungsmacht, andererseits aber auch das Vorbild für eine moderne und zukunftsgerichtete zivilgesellschaftliche Entwicklung, die den Anschluß an den Fortschritt verheißt und die Früchte der westlichen Zivilisation zum Greifen nahebringt.[1] Dazu gehört auch das Modell eines demokratisch organisierten Staates, in dem die Medien eine konstituierende Funktion erfüllen. Dieser Gedanke war die Plattform, auf der unser Medienprojekt zusammen mit den palästinensischen Partnern errichtet werden konnte. Gemeinsam gingen wir davon aus, einen staatsunabhängigen Rundfunk aufzubauen, der zur freien Willensbildung und Meinungsäußerung beiträgt. Zum Zeitpunkt des Projektbeginns erschien diese Perspektive noch realistisch, da die historische PLO-Führung, die wenig später aus dem Exil zurückkehrte, noch nicht genügend Einfluß in der heterogenen palästinensischen Gesellschaft hatte, um ihre doktrinäre Politik der nationalen Einheit unter Führung einer autoritativen Figur in Gestalt von Arafat zum Maßstab aller Dinge zu erheben.
Projekte und Hilfsmaßnahmen, die den Aufbau eines eigenen Rundfunks unterstützen, werden von der palästinensischen Seite sehr positiv aufgenommen, da dieser als wichtiger Faktor der kulturellen Identität angesehen wird. In keiner Phase wurde unsere Integrität als Ausbilder in Frage gestellt, obwohl wir deutlich gemacht haben, daß unserer journalistischen und technischen Ausbildung ein politisches und ästhetisches Konzept zugrundeliegt, das sich aus der Rolle der Medien in einer demokratisch verfassten Gesellschaft speist:
– die Medien als Promotoren von Demokratisierung und Anerkennung und Respektierung der Menschenrechte,
– die Medien als 4. Gewalt in der Gesellschaft, um die exekutive Gewalt zu kontrollieren und etwaigen Machtmißbrauch öffentlich zu machen,
– die Schlüsselrolle der Medien bei der Stärkung von Zivilgesellschaft.
Diese Vorstellungen kollidieren mit der ganz anderen Rolle, die die Medien als Teil der öffentlichen Kultur in den meisten Ländern des arabischen Raums spielen:
– die Medien als Instrument der Erziehung und Bildung,
– die Medien werden von der Regierung kontrolliert und bewußt als Mittel politischer Gestaltung eingesetzt.
Zu unserem Ausbildungsprojekt gehörten auch die Planung und Realisation von Programmformaten, die den Rundfunk von Anfang an so attraktiv wie möglich gestalten sollten. Uns war daran gelegen, den Rundfunk nicht nur als Katalysator von Öffentlichkeit, sondern auch als Ausdrucksform und Medium der Alltagskultur einzusetzen. Gemeinsam mit unserem palästinensischen Projekt-Partner, der Palestinian Broadcasting Corporation, haben wir ein populäres, mehrstündiges Morgenmagazin für das Radio entwickelt, das von zwei Moderatoren begleitet wird und primär Themen des palästinensischen Alltags aufgreift. Die Zuhörer haben per Telefon die Möglichkeit, direkt und unzensiert während der Sendung ihre Meinung zu äußern und dadurch zur freien Information und Meinungsbildung beizutragen. Das Konzept war erfolgreich: Innerhalb von einem Jahr avancierte das Magazin zum beliebtesten und meistgehörtesten Radioprogramm, trotz scharfer Konkurrenz seitens des arabischsprachigen israelischen Rundfunks. Das Magazin unterscheidet sich deutlich von den Nachrichtenprogrammen des nationalen palästinensischen Rundfunks, die von Anfang an primär der offiziellen Verlautbarungspolitik gedient haben.
Am Beispiel des Rundfunks konkurrieren zwei unterschiedliche Konzepte von Kultur als öffentlicher Raum: Der Rundfunk wird von Teilen der palästinensischen Gesellschaft nicht nur als Instrument der Erziehung und Bildung, sondern auch als Forum verstanden, auf dem die öffentliche Auseinandersetzung und kritische Reflexion gesellschaftlicher Wertvorstellungen stattfinden. Bei der Durchsetzung ihres Hegemonieanspruchs hat die historische Führungsgruppe der PLO um Arafat mit Unterstützung Israels und des westlichen Auslands die Oberhand gewonnen und sukzessiv ihren Einfluß auf den öffentlichen Rundfunk, an dessen Aufbau wir maßgeblich beteiligt waren, geltend gemacht. Konkret äußerte sich das zum Beispiel im Hinauswurf der beliebtesten Moderatorin des oben angesprochenen Radioprogramms, nachdem sie einen jungen palästinensischen Polizisten, der zahlreiche Mißstände bei der palästinensischen Polizei anprangerte, ausführlich, live und unzensiert zu Wort kommen ließ. Sie hatte an unserem Ausbildungsprogramm teilgenommen und beherzt versucht, der freien Meinungsäußerung zu ihrem Recht zu verhelfen, die unabänderlicher Bestandteil einer demokratischen und zivilgesellschaftlichen Orientierung ist. Die äußeren politischen Bedingungen haben den Wertewandel innerhalb der palästinensischen Gesellschaft beschleunigt. Je mehr die palästinensische Autonomiebehörde von Israel unter Druck gestellt und der Verhandlungsspielraum eingeschränkt wird, je weniger die Vereinigten Staaten ihre Neutralität einhalten, desto leichter fällt es der palästinensischen Führungsspitze, die internen Kritiker mundtot zu machen. Die allgemeine Devise ist, die Reihen geschlossen zu halten. Alle öffentlich gemachten Äußerungen werden dem Diktat des "nationalen Konsenses" unterworfen. Nach dieser Lesart muß die Kritik an den Binnenstrukturen der palästinensischen Autonomie und ihrer Verwaltung vermieden werden, da sonst der "nationale Konsens" gefährdet wird. Die Kritik an den Repräsentanten der Macht, die zugleich die Symbolfiguren der nationalen Einheit und des ersehnten, eigenen Nationalstaats sind, wird als Angriff auf die palästinensische Nation mißdeutet, und schneller als erahnt geraten die Kritiker in den Ruch des Vaterlandsverräters und finden sich in palästinensischen Gefängnissen wieder.[2]
Der öffentliche Raum und damit auch die palästinensische Kultur werden als Instrumente der palästinensischen Identitätsbildung in Abgrenzung zu anderen Nationen, d.h. in allererster Linie gegenüber Israel, verstanden. Diese Betrachtungsweise wird von vielen palästinensischen und israelischen Analytikern geteilt, die allein in der strikten Trennung beider Nationen die Basis für ein zukünftiges friedliches Zusammenleben sehen. Doch durch eine einseitige Festlegung auf den palästinensischen Nationalismus verlieren die Medien als Teil des öffentlichen Raums ihre Orientierungsfunktion hin zu einer zivilen Gesellschaft, in der die Grundrechte des Menschen nicht dem Willen des Staates untergeordnet werden dürfen. Wertmaßstäbe eines aufgeklärten und demokratischen Journalismus, die wir mit unserem Ausbildungsprojekt verbunden haben – die Garantie der freien Meinungsäußerung und die Vielfalt der Berichterstattung unter ausdrücklichem Einschluß der Kritik herrschender Zustände –, können so zunehmend ausgehebelt werden. Erschwerend kommt hinzu, wie sehr gerade im nahöstlichen Raum die Begriffe Demokratie und Menschenrechte aus taktischen Gründen mißbraucht werden. Die palästinensische Bevölkerung beobachtet genau, wie von den Industrieländern des Nordens mit zweierlei Maß gemessen wird, wenn zum Beispiel Israel sich in keinerlei Weise an Entscheidungen und Resolutionen der Vereinten Nationen gebunden zu fühlen braucht, während mißliebige Regime wie der Irak bei nur geringster Abweichung in schärfster Form verurteilt und sanktioniert werden. Das hat zur Folge, daß Teile der palästinensischen Bevölkerung, die in einem sehr konservativen, bäuerischen Milieu großgeworden sind, ganz grundsätzlich zu fragen beginnen, welche Vorteile denn eine demokratische zivilgesellschaftliche Entwicklung in Anlehnung an das zivilisatorische Modell der europäischen Staaten für die Verbesserung ihrer eigenen Lebensbedingungen bringt. Vice versa gilt das Gleiche: Der auf den palästinensischen Nationalismus verengte Kulturbegriff verliert in dem Maß seine Berechtigung, in dem er immer weniger in der Lage zu sein scheint, die tatsächlichen Lebensverhältnisse zu erleichtern. Die Hinwendung von Teilen der historisch und im Vergleich zu anderen arabischen Gesellschaften eher laizistisch geprägten palästinensischen Bevölkerung zu den fundamentalistischen Thesen des radikalen Islam spricht eine deutliche Sprache.
Es stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, inwieweit Europa, die USA und natürlich auch Israel ein echtes Interesse an der Entwicklung einer palästinensischen Demokratie haben, die Vorbildcharakter für die gesamte arabische Welt haben könnte. Leider scheint auch hier trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse der Grundsatz zu gelten, daß es sich mit einer autoritären Staatsführung leichter zugunsten der eigenen Interessen verhandeln läßt als mit einer lebendigen Demokratie, die Bedingungen stellt und sich nicht mit der Garantie persönlicher Machtansprüche abspeisen läßt. Die Stärkung der palästinensischen Kultur als Ort der freien Meinungsbildung, als öffentlicher Raum, in dem ohne Repression um politische, kulturelle und soziale Konzepte gestritten werden darf, ist eine der Bedingungen, ohne deren Erfüllung eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts langfristig aussichtslos bleibt.
Zahllose Ansätze auf dem Mediensektor beweisen, daß die Palästinenser einer demokratischen Entwicklung nach wie vor aufgeschlossen gegenüberstehen und sich unter hohem persönlichen Risiko dafür einsetzen. Für sie hat die freie Meinungsäußerung neue Dimensionen bekommen: In keinem anderen arabischen Land ist der Internetanschluß so verbreitet und in keinem anderen Land des Nahen Ostens gibt es eine derartige Dichte von lokalen Radio- und Fernsehstationen, die nicht nur die Videos aus dem örtlichen Videoverleih abspielen, sondern sich um eine lebendige Auseinandersetzung mit der eigenen Alltagswirklichkeit bemühen. Hier ist ein Potential vorhanden, das über großes Engagement, aber nur sehr rudimentäre handwerkliche und journalistische Kenntnisse verfügt. Entsprechende, auf die Bedürfnisse abgestimmte Qualifikationsmaßnahmen unterstützen die Entfaltung des Reichtums der palästinensischen Kultur und damit die Festigung der palästinensischen Identität in ihrer ganzen Vielfalt.
Robert Krieg
Aus: kulturpolitische mitteilungen Nr. 81, II / 1998
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[1] Dieser Widerspruch prägte zumindest die Generation der heute 30 – 50jährigen Palästinenser bis in ihren Alltag hinein. Bis zum Beginn der Intifada war es durchaus üblich, am Wochenende zum Tanzen nach Haifa zu fahren, was heute mehr denn je jenseits aller Möglichkeiten zu liegen scheint.
[2] Einer der bekanntesten Medienexperten Palästinas, Daoud Kuttab, wurde verhaftet, nachdem er eine Woche lang die teilweise turbulenten Sitzungen des palästinensischen Nationalrats über einen privaten regionalen Fernsehsender der Öffentlichkeit zugänglich machte. Sein Bekanntheitsgrad und die Intervention ausländischer Kollegen und Verbände verhalfen ihm nach einer Woche aus dem Gefängnis.