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Widerstand gegen das Vergessen

Vor nicht langer Zeit legte das Westfälische Landesmedienzentrum des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) in Münster einen bedeutsamen Film vor: "Lebensunwert" ist sein Titel, und er dokumentiert das Leben von Paul Brune, einem Zeitzeugen und Opfer der NS-Psychiatrie. Dieser Film ist absolut sehenswert und in Schulen, Hochschulen oder anderen Bildungsstätten sehr gut einsetzbar. Denn er geht den Stationen des Leidens während und nach der Zeit der Zwangssterilisation und der "Euthanasie" einfühlsam nach. An Paul Brunes Geschichte erfährt man sehr persönlich und exemplarisch das ganze Drama des Ausgeliefertseins, des Verwahrtseins, des Sichtens und Vernichtens in der NS-Zeit und auch danach.

Mancher mag sich etwas überrascht gefragt haben: "Der LWL als Produzent einer Dokumentation über die NS-Psychiatrie?" Diese Tatsache ist insofern bemerkenswert, als der Landschaftsverband Westfalen-Lippe 1953 die Rechtsnachfolge jenes Provinzialverbandes antrat, der als Träger der Heilanstalten für die Umsetzung der NS-Psychiatrie gesorgt hatte. Seit Jahren sind Historiker wie Bernd Walter, Franz-Werner Kersting, Hans-Walter Schmuhl, Sabine Hanrath oder Markus Köster dabei, die Archive des Landschaftsverbandes daraufhin zu durchforsten, was in den einzelnen Kliniken Westfalens und in ihrer zentralen Verwaltung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschah und wie sich dies auch noch auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts auswirkte. Mit dieser systematischen und wissenschaftlich sehr präzisen Aufarbeitung der eigenen Psychiatrie-Geschichte kann sich Westfalen sicher sehen lassen.

Und doch erfolgt die Beschäftigung mit der Vergangenheit – mit der NS-Geschichte zumal nicht nur in Archiven oder an institutionellen Schreibtischen. Sie wird vielfach erst lebendig, wenn Menschen sich um sie "kümmern" in des Wortes doppelter Bedeutung: sich von ihr bewegen (bekümmern) lassen und daraus den Impuls ziehen, die Erinnerung wachzuhalten, persönliche Dokumente zugänglich zu machen, Arbeitsgruppen zu gründen, Stolpersteine zu verlegen, Vorträge zu organisieren, Schulklassen einzubeziehen.

In diesem Sinne ist das Buch "Lebensunwert?" mehr als nur eine wichtige Ergänzung zu dem oben genannten Film. Es ist ein eigenständiges und beeindruckendes Dokument dieser "gelebten Geschichte": Wir lernen darin zwei Hauptpersonen kennen, Paul Wulf und Paul Brune; wir erfahren von ihnen nicht nur als Behandelte, sondern vor allem als Handelnde, als Kämpfer in eigener Sache und als Stachel im Fleisch der Nachkriegszeit. Denn während die Republik und ihre Verwaltungsorgane alle Energie auf das Vergessen und Verdrängen richtete und nichts dafür tat, dass die Opfer der NS-Psychiatrie überhaupt wahrgenommen und anerkannt wurden, machten es sich Paul Wulf und Paul Brune zur Aufgabe, darüber aufzuklären, was es bedeutete, von einer rassistischen Ideologie für "lebensunwert" erklärt zu werden.

Das Buch lässt Paul Wulf und Paul Brune zu Wort kommen, schildert ihre biografischen Stationen, dokumentiert Ausstellungen und Eindrücke. Die Filmemacher Robert Krieg und Monika Nolte, die Politikerin Brigitte Schumann, der Historiker Franz-Werner Kersting, die Ausstellungsgestalter Brigitte Diel und Harald Fieback, der Übersetzer Klaus Dillmann, die Soziologen Bernd Drücke und Volker Pade, sie alle tragen dazu bei, dass ein facettenreiches Mosaik und schließlich daraus auch ein ganzheitliches Bild entsteht, ein Dokument des Widerstands gegen das Vergessen. Unbedingt lesen!

Jens Clausen

Soziale Psychiatrie Nr. 3/07, 31. Jg., Köln, Juli 2007, www.psychiatrie.de/dgsp
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