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Der türkische Überfall auf Rojava

Erdoğans Angriffskrieg gegen die Kurden in Nordsyrien ist auch eine europäische Niederlage

Nicht erst seit Halle wissen wir, dass wir um das Leben und die Sicherheit der Juden in Deutschland fürchten müssen. Judenhass ist nur eine Form des Menschenhasses. Jüdisches Leben ist erst dann sicher, wenn alle Demokratinnen und Demokraten begreifen, dass auch sie gemeint sind. Fast zeitgleich mit dem Anschlag in Halle haben türkische Truppen und ihre islamistischen Helfershelfer die Menschen in Nordsyrien überfallen. Sie sind dabei, eines der sichersten Gebiete im Bürgerkriegsland Syrien blutig zu zerstören. In beiden Fällen geht es um einen Anschlag auf die Zivilgesellschaft.

Europa und Deutschland sind mitschuldig. Weil wir wollen, dass die Türkei die Flüchtlinge daran hindert, nach Europa zu kommen. Dafür nehmen wir stillschweigend in Kauf, dass das türkische Regime einen weiteren Brand im Nahen Osten entfacht. Sein Anführer Erdoğan steht innenpolitisch unter Druck. Er will die Flüchtlinge loswerden und sie in Nordsyrien ansiedeln. Kurz vor dem lang angekündigten türkischen Überfall war Bundesinnenminister Seehofer in der Türkei. Hat er etwa grünes Licht für den Einmarsch gegeben, als Gegenleistung für die Einhaltung des Flüchtlingsabkommens?

Ich frage mich: Wie blind sind wir eigentlich?

Wie blind ist unsere Regierung? Erkennt sie denn nicht, dass dieser Krieg auch unabsehbare Folgen für Europa, für uns haben wird? Ich spreche nicht nur von der neuen Flüchtlingswelle, die in Gang gesetzt wird. Ich spreche von dem fundamentalistischen Terror, den die Kurden zusammen mit den syrisch demokratischen Kräften erfolgreich besiegt haben. Mit Unterstützung der USA. Dabei haben 11.000 Kämpferinnen und Kämpfer, junge Frauen und Männer, ihr Leben geopfert, auch für uns Menschen hier in Europa. Ich habe persönlich ihre Gräber besucht. Warum verschließen wir die Augen davor und wenden uns ab?

Bisher haben die Kurden die Zehntausende islamistischen Terroristen und ihre Familien, darunter viele Europäer, in Gefangenenlagern bewacht und uns vom Leib gehalten. Das können sie jetzt nicht mehr. Sie müssen sich selbst verteidigen. Die Terroristen brechen zu Hunderten aus, mit fatalen Folgen für uns alle, auch in Europa und Deutschland. Wir wiederholen in unseren Medien die Behauptung, dass die Türkei mit uns im Kampf gegen den islamistischen Terror verbündet ist.

Das Gegenteil ist der Fall: Beim Überfall auf das kurdische Afrin Anfang 2018 im Westen Syriens kamen islamistische Fanatiker zum Einsatz. Sie überziehen Afrin seitdem mit ihrem Terror unter dem Schutzmantel der Türkei, und auch jetzt bilden sie wieder die Speerspitze, um Tote und Verletzte unter türkischen Soldaten zu vermeiden. Islamistische Milizen haben nach verlustreichen Kämpfen die Grenzstadt Ras al Ain eingenommen. Die türkische Armeeführung erhoffte sich leichtes Spiel, da der Ort überwiegend von Assyrern, Arabern, Armeniern und Tschetschenen bewohnt wird. Mit dem zähen Widerstand der syrisch demokratischen Kräfte (SDF oder QSD), dem militärischen Bündnis aller Bevölkerungsgruppen Rojavas, hatte sie offenbar nicht gerechnet. Die türkische Armee wollte mit dem Angriff auf die beiden Grenzstädte Tal Ayad und Ras al-Ain die von der autonomen Selbstverwaltung kontrollierten Gebiete in zwei Teile schneiden und die wichtigste Verbindungsstraße zwischen Ost und West kappen.

Dabei erledigten die Islamisten die Schmutzarbeit: Auf diesem internationalen Verkehrsweg wurde Havrin Khalaf, die Generalsekretärin der Zukunftspartei Syriens, bei einem von der Türkei logistisch unterstützten Hinterhalt der Dschihadistenmiliz „Ahrar al-Sharqiya“ ermordet. Türkische regierungsnahe Medien feierten die Hinrichtung als „gelungene Operation zur Neutralisierung einer Terroristin“. Die Bundesregierung hat schon bei dem Überfall auf Afrin weggeguckt. Die Einhaltung des Flüchtlingsabkommens und der Verkauf von Panzern sind ihr wichtiger. Allein in den ersten acht Monaten diesen Jahres hat Deutschland Kriegswaffen im Wert von rund 250 Millionen Euro an die Türkei geliefert.

Dabei findet in den kurdischen Gebieten im Norden Syriens eines der spannendsten Demokratie-Projekte überhaupt statt. Seit sechs Jahren baut die Bevölkerung eine basisdemokratische Selbstverwaltung auf, die in der gesamten Region ihresgleichen sucht. Kurden, Araber, Aramäer und Syrer leben friedlich zusammen, seien es Muslime, Jesiden oder Christen. Oberste Prinzipien sind autonome Selbstverwaltung, Frauenemanzipation, Schutz und Beteiligung von Minderheiten und religiöse Toleranz. Die Frauen sind an allen öffentlichen Ämtern zu 50 Prozent beteiligt. Ich war zweimal für Filmaufnahmen vor Ort, zuletzt im Dezember 2018. Ich konnte in persönlichen Begegnungen erleben, was die Emanzipation der Frauen in einer traditionellen Stammesgesellschaft bedeutet.

Das eigentliche Ziel der türkischen Invasion ist die komplette Auslöschung dieser zukunftsweisenden Entwicklung. Sie wollen nicht, dass der Funke überspringt. Wenigstens in diesem Punkt sind sie sich mit den anderen Machthabern in der Region einig. Basisdemokratie und Frauenemanzipation bedrohen unmittelbar die autoritären und patriarchalischen Machtstrukturen, die den Nahen Osten beherrschen.

Jetzt ist die basisdemokratische Entwicklung nicht nur durch den türkischen Einmarsch, also von außen, sondern auch von innen gefährdet: Der türkische Angriff führt dazu, dass die Entscheidungsgewalt sich vor allem auf das Militär (SDF) verlagert. Die militärisch logischen, hierarchischen Kommandostrukturen haben einer zivilgesellschaftlichen Entwicklung noch nie genützt, sondern sie im Gegenteil behindert und zum Erliegen gebracht. Insofern ist der Einmarsch besonders tückisch: Er bedroht nicht nur Leib und Leben der Bevölkerung, sondern führt auch zu einer Schwächung und Aushöhlung der basisdemokratischen Bewegung.

Nach dem Rückzug der US-amerikanischen Soldaten hatte die autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens ihre wohl letzte Karte gezogen: „Wir (haben) mit der syrischen Regierung, die in der Pflicht steht, die Grenzen des Landes zu schützen und die Souveränität Syriens zu wahren, eine Vereinbarung getroffen. Die syrische Armee wird auf der Grundlage dieser Einigung ihre Streitkräfte im Grenzstreifen zwischen Syrien und der Türkei einsetzen. Die Regierungskräfte werden die QSD dabei unterstützen, die türkische Aggression abzuwehren und die von der türkischen Armee und ihren Söldnern besetzten Gebiete zu befreien.“

Kurz danach trafen syrische Truppen im Grenzgebiet ein. Die Autonome Selbstverwaltung bezeichnete diesen Schritt als „schmerzhaften Kompromiss“ angesichts der realistischen Gefahr eines Genozids an der kurdischen Bevölkerung, – wohl wissend, dass sie damit das menschenverachtende Regime in Damaskus aufwertete. Gegenüber der EU war ihr Kalkül aufgegangen. Zum ersten Mal machte sich in den europäischen Regierungen Alarmstimmung breit. Die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen dem NATO-Mitglied Türkei und der syrischen Armee ist für die EU eine gruselige Vorstellung. Der luxemburgische Außenminister Asselborn bezeichnete die Situation als „außerirdisch“. Doch der Erfolg war nur von kurzer Dauer.

Offenbar hatte die Autonome Selbstverwaltung nicht damit gerechnet, in welchem Ausmaß die syrische Politik gegenüber der kurdischen Bevölkerung inzwischen von Russland gesteuert wird. Mit dem neuen Abkommen zwischen Russland und der Türkei werden die kurdischen Verteidigungskräfte gezwungen, sich aus den Grenzgebieten zurückzuziehen. Der Sprecher des Kreml warnte die SDF: Wenn sie sich nicht zurückzögen, würde sie die türkische Armee wie eine Dampfwalze überrollen.

Das einzige Zugeständnis an die Kurden ist die Vereinbarung, dass Ankara „nur“ ein 120 Kilometer langes Teilstück zwischen den Städten Tal Abayad und Ras al-Ain dreißig Kilometer tief besetzen darf. Die Türkei wollte bisher die gesamte 444 Kilometer lange Grenze unter ihre alleinige Kontrolle bringen. In den restlichen Grenzgebieten werden bis zu 10 Kilometer tief russische und türkische Soldaten gemeinsam patrouillieren. Jetzt ist klar, dass Syrien im Konflikt mit der Türkei wie bisher eine untergeordnete Rolle spielen wird und Russland das Reglement bestimmt. Niemand weiß zurzeit, wie sich Russland gegenüber der Absicht des türkischen Regimes verhält, zwei Millionen Flüchtlinge in dem Grenzgebiet anzusiedeln.

Die Bevölkerung Rojavas hat von der EU keine Unterstützung für ihr zivilgesellschaftliches Projekt zu erwarten. Der Vorstoß von Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, europäisches Militär in der Konfliktzone zu stationieren, geht nur vordergründig auf die Situation der dort lebenden Menschen ein. In den politischen Diskussionen, in den Radio- und Fernsehbeiträgen, die ich in den letzten Tagen verfolgt habe, setzt sich ganz überwiegend der eurozentrische Standpunkt durch, der alles unter der Prämisse – was ist gut für uns Europäer? – beurteilt.

Die zivilgesellschaftlichen Errungenschaften, die für die gesamte nahöstliche Region einen Vorbild-Charakter haben, stehen nicht im Fokus. Ebenso wenig die friedliche Perspektive, die das Modell Rojava für den Nahen und Mittleren Osten anbietet. Damaskus hatte die autonome Selbstverwaltung Rojavas bisher weitgehend in Ruhe gelassen. Wird auch Russland sich daran halten? Davon ist nicht auszugehen. Der Kreml hat keine Sympathien für unkontrollierbare und daher bedrohliche Prozesse wie Basisdemokratie und Frauenemanzipation. Putin ging es bisher darum, den militärischen Zugang zum Mittelmeer zu bewahren, den aus seiner geheimdienstlich geprägten Sicht allein ein diktatorisches und daher kontrollierbares Regime garantieren kann. Dafür mussten die Menschen in Aleppo sterben. Mit dem US-amerikanischen Rückzug und der Ohnmacht Europas wächst Putins Macht bedrohlich.

Was können wir tun?

Wir können Öffentlichkeit herstellen und die europäischen Regierungen mit friedlichen Massenprotesten unter Druck setzen. Alle Waffenlieferungen an die Türkei müssen sofort gestoppt werden. Suad, eine Protagonistin aus unserem Film „Experiment Rojava in Syrien – Eine Gesellschaft im Aufbruch“ [vgl. Editorial in GWR 439] hatte mir zu Beginn des türkischen Überfalls eine Botschaft geschickt: „Sie töten unsere Soldaten und zwingen die Menschen zur Flucht. Die Menschen fliehen, um ihre Kinder zu retten. Wir hören die Stimmen der Waffen rund um unser Land. Wir haben die Kraft und die Entschlossenheit, aber wer unterstützt uns da draußen?“

Robert Krieg, 24.10.2019

Aus: graswurzelrevolution 443, November 2019.

Externe Referenzen

Quelle
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