Director’s Statement
1.
Da ich in Bad Ems an der Lahn groß geworden bin, führten mich meine ersten Gehversuche in der Welt der Erwachsenen in die Kneipen der Altstadt von Koblenz. Hier, im Dreieck zwischen Rhein und Mosel, in den engen Gassen mit verfallenen Häusern, wo die Spuren des letzten Krieges noch lange sichtbar blieben, hatten sich einige Gasthäuser und Kneipen mit mehr oder weniger gutem Ruf eingenistet oder waren einfach aus der Zeit von vorher übrig geblieben. Kurz nach der Weinernte schwammen manche Gaststuben förmlich im milchigen, klebrigen Saft des Federweißen, der in Strömen ausgeschenkt und konsumiert wurde. Mich zog es in die "Münzschenke". An manchen Wochenenden spielten dort Koblenzer Sinti den originalen Swing-Jazz des Schnuckenack-Reinhardt-Quintetts. Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass der Solo-Gitarrist dieser Formation in Koblenz lebte. Die Atmosphäre in der "Münzschenke" war einmalig. Die Sinti-Musik war ein Teil von ihr, obwohl sie mit dem deutschen Liedgut nichts zu tun hatte. Diese Volksnähe des Sinti-Swing habe ich noch einmal am Porte de Clignancourt in Paris erlebt. In einem Bistro zwischen Läden mit gebrauchten Kleidern und Möbeln saßen die Händler in der Mittagspause bei einem Glas Pastis an der Theke und hörten den Klängen eines Trios zu, das Stücke von Django Reinhardt zum Besten gab.
2.
Immer, wenn ich in den letzten Jahren im Frühsommer an Koblenz vorbei nach Köln fuhr, sah ich an der Straße am Rhein ein großes Transparent hängen: "Djangos Erben - Koblenzer Sinti und Roma Musikfestival". Das erinnerte mich an meine Zeit in der Koblenzer Altstadt, und schließlich siegte meine Neugierde. Im Juli 2006 besuchte ich zum ersten Mal das Musikfestival in Koblenz-Asterstein. Ich sah im Festzelt kleine Jungs in Rapper-Hosen mit gegeltem Haar hin und her flitzen, die die Gäste mit Koteletts und Würsten vom Holzkohlengrill versorgten, und Mädchen in traditioneller Kleidung mit langen offenen Haaren, die hinter der Theke standen und Bier verkauften. Mein Interesse war erwacht. Ich wollte mehr wissen über diese Jugendlichen und auch die Alten, die im Publikum durch ihre festliche Kleidung auffielen. Ist es nur die Musik, die sie zusammenhält, oder gibt es mehr?
Was macht sie besonders, und warum pflegen sie ihre Besonderheiten? Wäre es nicht viel einfacher für sie, ihr Anderssein einfach aufzugeben und Teil der Mehrheitsgesellschaft zu werden? Was würden sie dabei verlieren?
Die Leute rümpfen die Nase, wenn sie den Namen Asterstein hören. "Sozialer Brennpunk" ist noch das freundlichste, was ich zu hören bekomme. Wenn ich dann erzähle, dass wir dort mit Sinti einen Dokumentarfilm drehen wollen, erlebe ich diesen mitleidigen und besserwisserischen Gesichtsausdruck, der mir wahlweise Naivität, Gutmenschentum oder auch pure Dummheit unterstellt. Einen Film über Sinti in Deutschland machen zu wollen, heißt für mich, den weit verbreiteten Vorurteilen ein ungeschminktes und realistisches Bild gegenüberzustellen, das von dem ausgeht, was ist. Eine repräsentative Umfrage aus den 90er Jahren belegt, das zwei Drittel aller Deutschen antiziganistisch, d. h. feindlich gegenüber Sinti und Roma eingestellt sind. Hatten Ende der 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts noch über 40 Prozent der Deutschen antisemitische Vorurteile, so sind es heute nur noch 20 Prozent. Immer noch viel zu viel, aber der Rückgang des Antisemitismus beweist, dass eine systematische Aufklärung erfolgreich sein kann.
3.
Alle sind sich darin einig, dass die Sinti besser in die Gesellschaft integriert sein müssten, dann würde sich der Antiziganismus von selbst erledigen. Die einen sagen, die Sinti machen nicht genug dafür, die anderen - Wohlmeinenden - halten dagegen, dass die Sinti längst wie Deutsche unter Deutschen leben und ihren Beitrag zur Integration geleistet haben. Je länger ich mich mit dem Thema beschäftige, desto häufiger stelle ich mir die Frage, was die Sinti selbst unter Integration verstehen und ob die Integrationsdebatte nicht über ihre Köpfe hinweg geführt wird. "Die von Nichtzigeunern geforderte Integration ist ein Generalangriff auf unser Leben", hat die Filmemacherin und Sintezza Melanie Spitta gesagt. "Es geht nicht darum, als Deutscher, sondern als Zigeuner anerkannt zu werden."
Ich will diesen Gedanken am Beispiel des "Landfahrertums" deutlich machen: Das Vagantentum, das unstete Umherziehen ist schon seit dem Mittelalter ein Dorn im Auge aller, die ihren Besitzstand wahren und mehren wollen und dafür bereit sind, ihrer Sicherheit ein Stück Freiheit zu opfern. Für den Staat bedeutet es Kontrollverlust. Nach 1945 ließ die neue Führung Jugoslawiens im ganzen Land die Zigeunerwagen aufbocken und ihre Räder entfernen. Die abmontierten Räder wurden auf große Haufen geworfen und verbrannt. Fotos von Zigeunerlagern aus dem Nachkriegsdeutschland zeigen die traditionellen Wohnwagen aus Holz auf Backsteinen aufgebockt, die Räder sind für immer abmontiert. Die "Wohlmeinenden" weisen nun nach, dass die Sinti inzwischen in Deutschland sesshaft sind und ihre frühere Nichtsesshaftigkeit von den damals herrschenden Verhältnissen erzwungen worden war. Sie waren Ende des 16. Jahrhunderts vom Deutschen Reichstag für vogelfrei erklärt worden und konnten sich den Progromen nur durch ständige Flucht entziehen. Für die Sinti, die ich im Verlauf unserer Recherchen kennengelernt habe, ist das Reisen dagegen ein fester Bestandteil ihrer Kultur, den sie nicht missen möchten. Fast alle besitzen einen Wohnwagenanhänger und versuchen, zumindest im Sommer ein paar Wochen unterwegs zu sein. Was hindert uns daran, das Reisen als Ausdruck einer Lebensweise zu akzeptieren? Warum versuchen wir, die Sinti vor Xenophobie zu schützen, in dem wir ihre Angepasstheit hervorheben?
4.
Ungeschminkt und realistisch - das bedeutet für mich, die Lebenswirklichkeit der Sinti in ihrer Differenz zur Mehrheitsgesellschaft zu zeigen. Dazu gehören zum Beispiel die Defizite im Bildungsbereich, die ihnen Aufstiegsmöglichkeiten in der Mehrheitsgesellschaft verschließen. Die meisten Jugendlichen finden sich damit ab und richten sich in der beruflichen und sozialen Nische ein, die sie durch ihre Familie "erben". In dieser Differenz scheint aber auch die Vielfalt auf, die die Kultur der Mehrheitsgesellschaft bereichern und ihr neue Impulse versetzen könnte. Grenzgänger wie Bawo Reinhardt und sein Sohn Lulo Reinhardt versuchen den ethnisch-kulturellen Zusammenhang zu bewahren, in dem sie die Besonderheiten ihrer Kultur in die Mehrheitsgesellschaft hineintragen. Nur wenige denken so. Die meisten Sinti glauben, ihre kulturelle Identität zu schützen, indem sie sie nach außen abschotten.
Von den drei Generationen, um die es in unserem Film gehen wird, sprechen bis auf wenige Ausnahmen nur noch die Großeltern und Eltern Romanes. Mit der Sprache geht nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern der wichtigste Bezugspunkt der gemeinsamen kulturellen Identität verloren. Die Sprache wirkte bisher wie ein natürlicher Schutzraum, den die Jungen bereits kaum noch kennen. Befördert wird dieser Prozess von der Tendenz, sich immer häufiger Ehepartner außerhalb der Sinti-Gemeinschaft zu suchen. Zeigt sich hier nicht eine Entwicklung, die letztlich zur Auflösung dieser nationalen Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft führen wird? Was wird übrig bleiben? Die Musik? Eine flüchtige Erinnerung?