Startseite – Filme – „Lebensunwert“ – Stimmen –

Aktenlage

"Lebensunwert - Der Weg des Paul Brune" (ARD)

Akten fixieren Identitäten. Einmal in den Akten angelegt, schreiben sich behördliche Lebensläufe fort und emanzipieren sich gelegentlich sehr weit von ihren Bezugspersonen. Paul Brune wurde die Sprache der Akten zum Schicksal. "Ihre Akte ist ungeheuerlich", bescheinigt seine Nervenärztin dem offenkundig klar denkenden Mann heute. "Sie müssen ein Monstrum sein, das es gar nicht gibt. Alle Geisteskrankheiten, welche es gibt, hat man Ihnen angehängt." Auf dem vergilbten Papier steht der Vermerk "geisteskrank", der Brune ein beinahe lebenslängliches Verdikt wurde, wenngleich er sich den Umständen des Nazi-Regimes verdankte.

Paul Brunes Leidensweg, von Robert Krieg und Monika Nolte in ihrer Reportage "Lebensunwert" umsichtig nachvollzogen, beginnt mit einem Seitensprung seiner Mutter. Von ihrem Ehemann brutal dafür mißhandelt, versucht die Mutter, sich und ihre Kinder zu ertränken. Eines ihrer Kinder kommt dabei ums Leben, einer Verurteilung wegen Kindesmordes kann sie nur entgehen, indem sie sich in eine Irrenanstalt einliefern läßt. Ihr Kind Paul muß ihr Schicksal teilen und wird mit dem Vermerk "geisteskrank" in ein Waisenhaus abgeschoben. Es ist die erste Etappe einer langen Reihe von "Pflegeanstalten", die der Junge durchleidet und die sich in der Verachtung seiner vermeintlich minderwertigen Existenz auf eine unheimliche Weise gleichen.

Schläge und Zwangsjacke gehören für Brune zum täglichen Erziehungsrepertoire. Trotz allem hat er in dieser Zeit noch Glück. Die Erblehre der Nazis, die Menschen in strenger Dichotomie in "erbgesund" und "erbkrank" einteilte, sah die Vernichtung aller genetisch Kranken vor, um sie völkische Blutbahn "rein" zu halten. Nur um ein Haar entgeht Brune dem nationalsozialistischen Euthanasieprogramm.

Auch das Kriegsende bringt Brune keine Änderung der Aktenlage und damit der Behandlung. Die Ärzte, die für die Kindermorde verantwortlich waren, werden freigesprochen und praktizieren unbehelligt weiter. Paul Brune wird indessen weitergeprügelt und mit dem Kopf so lange unter Wasser gehalten, bis er zu ertrinken glaubt. Therapie nennt man dies in dem Heim in Münster auch noch acht Jahre nach Ende des Krieges. Zwölf Jahre nach Kriegsende wird Brunes Entmündigung schließlich aufgehoben. Die Akte der Nazizeit läßt ihn jedoch nicht los. "Ich werde Ihr Spielchen jetzt abrupt beenden", dekretiert der zynische Schulamtsleiter dem zum Rapport bestellten Lehramtsanwärter im Jaht 1977 und wirft ihm die Vertuschung seiner Krankheit vor. Ein anschließendes Gutachten erinnert in frappanter Weise an das Nazi-Urteil: "Paul Brune ist ein klassisches Schulbeispiel für Asozialität per Erbanlage." Wiederum muß Brune klagen, um sein Referendariat machen zu können. Lehrer darf er jedoch nicht werden. Erst 2003 erkennt ihn das Land Nordrhein-Westfalen als Opfer des Nazi-Regimes an und gesteht ihm 260 Euro monatlich zu.

Paul Brune gibt seine Lebensgeschichte allen Anlaß, seiner Umwelt unversöhnliche Feindschaft zu schwören. Doch selbst die Gewißheit, sein Überleben nur dem Zufall und nicht der Mitleidenschaft seiner Mitmenschen zu verdanken, läßt ihn ohne Bitterkeit zurück. In einem besonnenen, weder resignierten noch anklagenden Tonfall resümiert er sein Leben. Die Gleichmütigkeit, mit der er sein Schicksal erträgt, erspart uns aber nicht die Fragen, die Robert Krieg und Monika Nolte unerbittlich formulieren: Wie war es möglich, daß die menschenverachtenden Verhältnisse in den psychiatrischen Anstalten jahrzehntelang fortbestanden? Warum war die Bundesrepublik so lange unfähig, auf der Ideologie der "Rassenhygiene" beruhende Urteile aufzuheben?

Thomas Thiel

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. August 2005
SeitenanfangImpressumDatenschutz