Auszug aus der Petition von Paul Brune
25. Mai 1966
(...) 1950 im Juni kam ich als "Familienpflegezögling" zu einem Bauern, der auch gleichzeitig Zimmermann war, von der Anstalt in das Dorf Erlinghausen. Dieses geschah von einem Tag auf den anderen. Ich wurde nicht gefragt. Es gab kein Gespräch. Ich landete als Leiharbeiter der Anstalt bei dem Bauern Herrmann Sauerland. Dieser Mann empfing mich mit den Worten: "Eck hav die blödet Bickelnchesichte nich tuom Friärten un Driärten usse Anstalt chehalt." Auf Hochdeutsch: Ich habe dich blödes Schweinegesicht nicht zum Fressen und Scheissen aus der Anstalt geholt.
Wie oft habe ich dieses und anderes in den gut zweieinhalb Jahren mir anhören müssen. Hermann Sauerland war ein äußerst brutaler und roher Mensch. Er war krankhaft geizig und habgierig. Er gönnte mir das Essen nicht. Einmal ertappte er seine 40jährige Schwester dabei, sie war unverheiratet, wie diese mir heimlich ein Ei gab. Er schlug sie in meinem Beisein blutig. Frau Thea Sauerland blutete aus Nase und Mund. Sie lief zur ihrer verheirateten Schwester ins Dorf, welche mit ihr zurückkam, die Habseligkeiten der Frau Sauerland abholte und mit ihr für immer verschwand. Frau Thea Sauerland ging nach Bredelar als Haushälterin.
Ich war mit dem 42jährigen Junggesellen Sauerland ein halbes Jahr allein, bis er eine Frau nahm. Ich war also vom Regen in die Traufe gekommen. Eine freie Stunde, Sonn- und Feiertage kannte ich nicht, von Ferien ganz zu schweigen. Milch und Eier waren für mich Schweine-gesicht viel zu kostbar. Es wurde alles verkauft. Er gönnte mir im wahrsten Sinne des Wortes nicht die Magarine auf dem Brot, obwohl ich den ganzen Tag schwer arbeiten mußte. Butter bekam ich nicht, obwohl ich den Rahm im Butterfaß immer verarbeiten mußte. Davon bekäme ich einen zu "fetten Arsch", wie er sagte. Ich mußte mich auf eine total andere Sprache einstellen. Sauerland besaß vier Kühe, die ich hüten und versorgen mußte. Melken, putzen usw., Schweineställe ausmisten, dicke Buchstämme hacken, Mist aufladen und streuen. Arbeit, welche bei meinem dürftigen Zustand mehr als Schwerstarbeit war. Ich wog damals keine 50 Kilo. Die Schwerstarbeit wurde aber mit brutaler Gewalt erzwungen. Die Mistgabel war sein Zuchtmittel, mit der er mich gnadenlos traktierte.
Da er auch Zimmermann war, mußte ich mit ihm die schweren Balken schleppen oder die schweren Eichenbohlen auf den Boden transportieren, wo diese gelagert wurden. Versagte ich einmal oder kam ich ins Stolpern, so schlug er zornig erbarmungslos zu. Sein Jähzorn war furchtbar. Die Kühe wurden vor den Wagen oder den Pflug gespannt. Die Leitkuh "Schimmel" wurde auf schreckliche Art und Weise mit dem Wagenschwengel mißhandelt. Er schlug das arme Tier blutig, wenn dieses einmal beim Hüh oder Ha vor dem Pflug versagte, sei es beim Kartoffelhäufeln oder beim Pflügen. Ich sehe noch heute das arme zitternde Tier, mit Schaum vor dem Maul, bebenden Hüften, vor Angst und Not weit aufgerissenen Augen vor mir und fange an zu zittern. Ich habe um die geschundene Kreatur im Beisein Sauerlands geweint. "Schimmel" war eine ältere, große und sanftmütige Kuh. Wie oft habe ich mich beim Hüten mit dieser Kuh ausgesprochen, ihre malträtierten Seiten gestreichelt. Ich bildete mir ein, sie können alles verstehen, was ich ihr sagte; noch, wenn sie mich mit ihren lieben Augen anschaute. Endlich hatte ich jemanden, dem ich das Herz ausschütten konnte, mit dem ich ohne Gefahr vorbehaltlos "reden" konnte. (...)
Ich kann nicht sagen, wen Sauerland mehr und erbärmlicher geschlagen hat, "Schimmel" oder mich. Bei jedem Schlag wurde mir "Schimmel" wesensverwandter, ob er mich oder das heißgeliebte Tier traf. Menschen habe ich nie lieben dürfen. Kein Mensch hat mich je geliebt, im Gegenteil. Nun wußte ich, wie beglückend es ist, eine Kreatur lieben zu dürfen. "Schimmel" brauchte mich, und ich brauchte "Schimmel".
Dieses ist das ganze Geheimnis, warum ich bei diesem brutalen, gemütsrohen Menschen mehr als zweieinhalb Jahre es habe aushalten können. Ich wollte einfach nicht wieder hoffnungslos allein sein auf der Welt. Die schreckliche Anstalt war für mich keine Lösung. Also blieb ich bei "Schimmel", so schrecklich auch alles war.
Jeden Sonntag bekam ich ein 50 Pfennigstück als Taschengeld. Die Aushändigung dieser kleinen Münze an mich durch Sauerland war stets mit bombastischen Tiraden verbunden wie, daß ich dieses Geld gar nicht verdient habe, daß ich ihm zu viel koste usw. . Ich wußte mit diesem Geld gar nichts anzufangen. Es wurde auf ein Sparbuch angelegt, welches ich erst gar nicht zu Gesicht bekam. Heute weiß ich, daß Sauerland vom Staat zu meiner billigen Arbeitskraft, die er schamlos ausbeutete, noch eine bedeutende Summe Geldes dazu bekam. Er bekam für seine unmenschliche Ausbeutung meiner Arbeitskraft auch noch obendrein eine staatliche Sklavenhalterprämie. Es hat mir den Atem verschlagen, wie ich dieses vor ein paar Jahren erfahren habe. (...)