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Zum Film

Idee

"Es ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer das laut zu sagen, was ist."
Rosa Luxemburg

Das vorliegende Filmvorhaben ist eine Zeitreise in die Vergangenheit und zugleich eine kritische Bestandsaufnahme der Gegenwart. Der Spannungsbogen entsteht aus den Träumen und Wünschen der Menschen, die zu Beginn der 70er Jahre Anfang 20 waren, und dem, was sie bis heute daraus gemacht haben. Die Menschen, um die es geht, das sind wir. Als junge Studenten, Auszubildende und Berufstätige wollten wir den Traum gemeinsamen leben und politisch arbeiten wahrmachen. Mit 40 jungen Männern, Frauen und einigen Kindern bezogen wir in der sehr konservativ geprägten Universitätsstadt Münster das ehemalige Hotel "Kronenburg". Von dort aus starteten wir zahlreiche politische Initiativen, die von der §218-Kampagne über Strafentlassenenhilfe und Jugendprojektarbeit bis zur Gründung von Zeitungen und Umweltgruppen reichten. Es gab in diesen Jahren eine große Aufbruchsstimmung, und wir hatten die Vorstellung, gemeinsam eine freiere, menschlichere Zukunft zu gestalten. Gegen unsere Eltern bestanden wir auf unser Recht zur Selbstverwirklichung.
Jeder ist damit auf seine Weise umgegangen. Ich habe das Reisen mit dem Filmen verbunden.

Darüber sind nun mehr als 25 Jahre ins Land gegangen und ich sehe mich damit konfrontiert, daß die Wortführer unserer Generation nicht nur ihre Meinung geändert haben, sondern mit großer Souveränität ihre eigene Vergangenheit verleugnen. Ich möchte gern wissen, ob das nur ich allein abstoßend finde, und mache mich mit meiner digitalen Kamera auf den Weg, um meine alten Freunde und Mitstreiter aus der "Kronenburg" aufzusuchen. Ich bin neugierig darauf, zu sehen, wie sie heute leben. Ich möchte von ihnen wissen, wie sie mit der damaligen Zeit , d.h. den Erfahrungen, den Utopien, den Zielen und den Enttäuschungen umgehen und was sie daraus für sich gemacht haben. Indem ich meine Freunde aus der Zeit des Erwachsenwerdens erzählen lasse und meine eigenen Wahrnehmungen thematisiere, konfrontiere ich uns zugleich mit unserer Gegenwart. Im Rückblick werden Lebensentwürfe sichtbar, Teile der Biographie einer Generation, die heute an der Macht ist.

Zum Inhalt des Films

Alle Jahre wieder kommt der unvermeidliche Tag, an dem man an sein Alter erinnert wird. Seitdem ich die 50 erreicht habe, möchte ich am liebsten einfach nicht mehr darüber reden. Aber ständig werde ich damit konfrontiert – denn die Leute meiner Generation sind heute an der Macht. Dabei muß ich an die Party zu meinem 30. Geburtstag denken – unter dem Motto "Trau keinem über 30". Wir feierten in der "Kronenburg", einem ehemaligen Hotel und Treffpunkt der linksalternativen Szene im westfälischen Münster. Mich hatte das Studium in die erzkonservative Stadt verschlagen. In dieser Zeit, den 70er Jahren, hatten wir alle das starke Bedürfnis, die Welt zu verbessern – wenn nicht heute, dann doch wenigstens in absehbarer Zukunft. Die "Kronenburg" war unser Projekt.

Die anständigen Bürger der Bischofsstadt packten ihre Zöglinge fester am Arm und beschleunigten ihren Schritt, wenn sie an unserem roten Backsteinbau vorüberkamen. Mutmaßungen über wilde Orgien und Umtriebe von gefähr-lichen Linksextremisten trieben ihnen die Haare zu Berge.
Dabei hatte alles ganz friedlich mit einem Pachtvertrag angefangen. "Typisch Münster" höhnten die Genossen aus Frankfurt, die sich bei Hausbesetzungen blutige Köpfe geholt hatten. Unsere Verpächterin, Frau Brüggemann, stammte aus einer angesehenen Familie der Stadt und war bei den Nonnen zur Schule gegangen. Ihr Vater hatte das Haus Ende der 20er Jahre erbaut. Nach dem Krieg, den es unbeschadet überstand, wurde es zum Hotel umgebaut und im Sog des raschen Wirtschaftswunders eine der ersten Adressen in Münster. Das Restaurant und der ebenfalls im Haus untergebrachte Nachtclub waren bis Ende der 60er Jahre Publikumsmagneten. Dann gingen die Geschäfte bergab und Frau Brüggemann begann sich nach einem neuen Hotelpächter umzusehen.

Gemeinsam leben und arbeiten – der Anstoß kam von der Sozialistischen Basisgruppe Medizin, der auch Gisela Brüggemann, die Tochter der Hotel-besitzerin, angehörte. Die Gruppe wollte medizinische Arbeit im Stadtteil aufbauen und zusammen wohnen. Gisela brachte das Hotel ihrer Mutter ins Spiel, und das Projekt eines gemeinsam verwalteten Hauses für politisch motivierte Wohngemeinschaften war geboren. Schnell zog die Idee ihre Kreise, und auch ich begeisterte mich dafür. Der Arbeitskreis Münster Süd e.V. wurde gegründet und nahm die Pachtverhandlungen mit Frau Brüggemann auf.
Frau Brüggemann war eine couragierte Frau. Sie hatte einen nicht standes-gemäßen Mann geheiratet und wurde seitdem von den saturierten Kaufleuten der Hansestadt mit Mißachtung bestraft. Um so größer war die Empörung in der Münsteraner Öffentlichkeit, weil sie "ominöse Studentenaktivitäten" unterstützte.
Anfang Mai 1974 war es so weit. 41 neue Mieter zogen in die "Kronenburg" ein: Pädagogik-, Psychologie-, Soziologie- und Medizinstudenten; angehende Lehrer, kaufmännische Angestellte, Graphiker; Lehrlinge; darunter einige Eltern und Mütter mit insgesamt 5 Kindern.
Unser Anspruch war hoch: Wir wollten ein Gegenmodell zum Wohnen in der Kleinfamilie schaffen, um "die Isolation, die Triebunterdrückung und die daraus resultierende Autoritätsangst und -hörigkeit, die in unserer bürgerlichen Existenz begründet sind, abzubauen", wie es in einem unserer Positionspapiere hieß. In nicht enden wollenden Debatten auf den wöchentlichen Plena versuchten wir, unser Zusammenleben zu entwickeln oder doch wenigstens erträglich zu organisieren. Festgelegt wurde, daß die Hälfte der Zimmer an nichtakademische Berufstätige vermietet werden sollte. Wir haben uns politisch engagiert im Kampf um den § 218, im Stadtteil, in der Jugend- und Strafgefangenenarbeit und nicht zuletzt in der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung. Die selbstverwaltete Kneipe im Haus wurde zum Treffpunkt der linksalternativen Szene in Münster. Wenige Jahre später tummelte sich eine bunte Truppe im Rathaus. Die Grün-Alternative Liste zog in die Bürgerschaft ein und gründete auf Bundesebene die grüne Partei.

Einige der in den 70er Jahren Aktiven haben politische Karriere gemacht. Fischer und Cohn-Bendit, deren Häuserkampfblatt "Revolutionärer Kampf" auch in der "Kronenburg" gelesen wurde, sind buchstäblich im letzten Augenblick auf den Zug zu den Pfründen der Macht gesprungen. In ganz Europa regieren heute die Schröders, Blairs, Jospins, Straws und Solanas; alles Typen, die in den 70ern auf der anderen Seite der Barrikade gestanden haben. Was mich schockiert und enttäuscht, ist nicht die Tatsache, daß sie ihre Meinung geändert haben. Sondern die Souveränität, mit der sie ihre Vergangenheit verdrängen.


Was haben wir also bewegt, und was ist aus uns geworden?
Ich habe mich nach einigem Hin und Her für den Dokumentarfilm entschieden und bin in die "Welt der kleinen Selbständigen" abgetaucht, um mit Johan van der Keuken zu sprechen. Neuerdings stelle ich mir die Frage, was wohl aus meinen ehemaligen WohngenossInnen aus der "Kronenburg" geworden ist. Wo stecken sie heute, was treiben sie und was treibt sie um? Was werden sie mir erzählen, wenn ich sie auf unsere verrückte Zeit in der "Kronenburg" anspreche? Möchten sie noch daran erinnert werden? Haben sie Ideale? Noch die Utopien von damals? Beruhigen sie ihr schlechtes Gewissen mit einer monatlichen Überweisung an Greenpeace oder WWF? Beziehen sie ein Unterkriechsalär als Abgeordneter oder Professor, sind sie brave Steuerzahler geworden? Vermissen sie die Freiheiten, die wir uns damals genommen haben?
Die Welt hat sich verändert in diesen fast 30 Jahren – wie hat sich unser Blick auf die Welt verändert?

Wir sind alle – zumindest mir geht es so – in die Wechseljahre gekommen. Da dürfte es nicht schaden, einen Blick zurück auf die Anfänge zu werfen. Ich schultere meine digitale Kamera und mache mich auf den Weg zu einigen meiner Mitstreiter aus jenen Zeiten. Was für Menschen werden mir begegnen nach mehr als 25 Jahren? Neugierig bin ich und nachdenklich, zu Larmoyanz neige ich nicht. Einen Blick zurück will ich wagen und eine Bestandsaufnahme. Wir wollten damals ein kollektives Bewußtsein schaffen – sind unsere Erinnerungen gemeinsame? Haben wir wirklich die gleichen Ideen und Träume geteilt, oder nur die gleichen Parolen gerufen? Sah und sieht nicht jeder von uns die Welt unter seinem eigenen Blickwinkel? Und diese verschiedenen Blicke – ergeben sie ein Bild?

2. Mai 1974
In Münster/Westfalen wird der erste "Allwetterzoo" der Welt eröffnet, in dem sämtliche Tiergehege von überdachten Wegen aus auch bei schlechtem Wetter betrachtet werden können.


Gleich in den ersten Tagen wurde die Toleranz unserer Vermieterin auf eine harte Probe gestellt. Stundenlang dröhnten schwere Vorschlaghämmer in Etagen und Fluren. Wir hatten beschlossen, bis auf wenige Ausnahmen die Toiletten und Duschen in den ehemaligen Hotelzimmern zu entfernen,- keiner sollte über das Privileg eines eigenen Badezimmers verfügen dürfen. Lustvoll ließen wir die Hämmer krachen.
Daß ich aus einer gutbürgerlichen Familie stamme, konnte in der "Kronenburg" nicht lange verborgen bleiben. Vielleicht lag's an meinen Tischmanieren, – jedenfalls wurde ich zum Emissär des Hauses bestimmt. Einmal im Monat besuchte ich Frau Brüggemann in ihrer gepflegten Villa am Parkring und berichtete bei einem kräftigen englischen Tee und feinem Gebäck über die Entwicklungen im Hause. Trotz mancher Wechselbäder der Gefühle hielt sie an unserem Projekt fest. "Ich habe immer noch ein riesiges Vertrauen in die Jugend. Sie ist es, die unter der Hierarchie unserer Gesellschaft am meisten zu leiden hat", sagte sie viele Jahre später in einem Interview. Wer traut sich heute, einen solchen Gedanken zu formulieren?
Frau Brüggemann ist vor einigen Jahren gestorben. Die "Kronenburg" verwaltet jetzt ihr Sohn, der in der obersten Etage wohnt und in der ehemaligen Kneipe ein Bistro eröffnet hat. Das Haus ist im warmen Ockerton verputzt. An einer Seitenwand ranken sich Kletterpflanzen hinauf. Die neuen Fensterrahmen leuchten blau. Im Haus leben immer noch einige Studentenwohngemeinschaften. Der Hauseingang steht weit offen und ist verdreckt. Einige Briefkästen sind aus der Verankerung gerissen, die Klingeln funktionieren teilweise nicht mehr. "Da hat es bei uns aber besser ausgesehen!" muß ich unwillkürlich denken.

Bis in die 70er Jahre war die Bar nebenan ein Edel-Puff, in dem die Oberen der Stadt verkehrten. Zwischen dem Betreiber der Bar und dem Hotelier gab es eine Vereinbarung. Bei Bedarf standen einige Zimmer im ersten Stock zur Verfügung, jederzeit erreichbar über die Hintertreppe. Alle im Stadtteil wußten Bescheid, und keiner störte sich daran. Gestört haben wir sie. "Früher kamen die Huren mit dem Mercedes, heute kommen sie mit dem Fahrrad", pflegten die Nachbarn in der gegenüberliegenden Kneipe zu sagen, wenn sie mißbilligend unser Treiben beobachteten. Ich möchte sie gern noch einmal am Tresen treffen. Werden sie auch im Nachhinein so abfällig über uns reden?

Heute verkehren in dem ehemaligen Nacht-Club junge Leute. Die "Luna-Bar" ist ein beliebter Treff der Musik-Club-Szene. An diesem Abend legt der DJ Musik von Hamburger Undergound-Bands auf und projeziert einen Hans-Albers-Film auf die Tanzfläche. Die zahlreichen ganz in rotem Samt ausgeschlagenen Separees sind erhalten geblieben, nur hat man jetzt große Fenster in die Zwischenwände geschnitten und die Vorhänge vor den Eingängen weggelassen. Wenigstens das haben wir mit der sexuellen Revolution der 70er Jahre erreicht. Die katholische Doppelmoral und Verlogenheit der 'anständigen Bürger' hat einen echten Dämpfer bekommen. Einige Jugendliche prosten sich fröhlich durch die Öffnungen zwischen den ehemaligen Separees zu.

Gisela B. hat in der Villa ihrer Mutter eine Praxis für Allgemeinmedizin und psychotherapeutische Beratung eingerichtet. Wir trinken beim Italiener um die Ecke ein Glas Wein zusammen. "Was hat Deine Mutter – eine 'höhere Tochter', wie sie sich immer selbstironisch bezeichnete – veranlaßt, ein derartiges persönliches Risiko einzugehen und die Kritik einer ganzen Stadt auf sich zu ziehen?" möchte ich wissen. "Sie war immer sehr hilfsbereit", erinnert sich Gisela. "Vieles von dem, was sie im Stillen getan hat, haben wir gar nicht gewußt. Das haben wir erst nach ihrem Tod erfahren. Da sind sehr viele Nachbarn gekommen und haben über unsere Mutter erzählt.
Aber sie war auch sehr naiv. Wenn ihr jemand gefiel, ließ sie sich sehr schnell überzeugen. Mit Geldgeschäften kannte sie sich nicht aus. Und wurde öfters schlecht beraten. Auch das "Kronenburg"-Projekt war ein echtes finanzielles Risiko. Trotzdem hat sie dazu gestanden." Gisela lacht. "Ich war dem Projekt gegenüber häufig viel skeptischer als sie. Sie wollte den Jugendlichen, wie sie immer sagte, einen Freiraum geben. Sie sollten alleine zurechtkommen und ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. Natürlich litt sie auch unter den Schattenseiten. Es gab viele impulsive Menschen, die sinnlos zerstörten, Möbel verheizten, Scheiben einschmissen. Aber meine Mutter lobte die menschliche Toleranz und Wärme. In der "Kronenburg" haben Menschen gewohnt, die zugrunde gegangen wären, hätte man sie nicht aufgefangen und sich nicht um sie gekümmert."

22. März 1974
In der Bundesrepublik wird die Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt und die Ehemündigkeit der Frauen von 16 auf 18 Jahren heraufgesetzt.


Ingomar M. beschäftigt sich mit dem Mechanismus der Zeit. Er ist Uhrmacher geworden. Als er in die "Kronenburg" einzog, begann er zeitgleich seine Uhrmacherlehre. Heute restauriert Ingomar antike Uhren. Seine Werkstatt hat er in einer Scheune eingerichtet. Auf der Werkbank liegen Teile einer zerlegten Turmuhr, an deren defekter Mechanik er konzentriert und ruhig arbeitet. Auftraggeber sind Auktionshäuser und Antiquitätenhändler. Um Aufträge muß er sich nicht mehr kümmern, seine fachliche Qualifikation und präzise kunsthandwerkliche Arbeit haben sich herumgesprochen.
Ingomar erzählt: Als kleines Kind sind er und seine Geschwister ins Heim gekommen. Zu seinen Eltern hat er bis heute keinen Kontakt. Seine gesamte Kindheit verbrachte er hinter den Mauern eines katholischen Erziehungsheims. Die Prügelstrafe war noch nicht abgeschafft. Als er 17 wurde, suchte sein Amtsvormund eine Wohnmöglichkeit für ihn. Gemeinsam mit Klaus W., der aus dem gleichen Heim kam, zog er in die erste Etage der "Kronenburg" ein. Sie waren buchstäblich die Ersten. Der alte Pächter war noch nicht ausgezogen, die Hotelzimmer standen aber schon leer. Für Ingomar war die Wohngemeinschaft in der "Kronenburg" ein Schutzraum, in dem er sich sicher fühlen konnte. Aus dieser behüteten Umgebung heraus unternahm er seine ersten Streifzüge in eine bis dahin verschlossene Welt. Er lernte, im Supermarkt gegenüber einzukaufen, sich in der Stadt zu bewegen, etwas allein zu unternehmen, was ihm nicht mehr von der Heimleitung vorgeschrieben wurde.
An den Diskussionen der Vollversammlungen der Hausbewohner versuchte er anfangs teilzunehmen. Er fühlte sich zum Haus gehörig und wollte entsprechend ein vollwertiges Mitglied sein. Doch der Jargon schloß ihn aus. Er verstand nur die Hälfte von dem, was gesprochen wurde. So blieb die 1. Etage sein wichtigster Bezugspunkt. Hier wohnten noch weitere Berufstätige und Lehrlinge. Hier hatte er seine erste Liebesbeziehung. Von den politischen Zielen der "Kronenburg" ist ihm nicht viel in Erinnerung geblieben. Ihn zogen eher die Diskos an.
Ingomar hält seine Zeit in der "Kronenburg" für wichtig. Sie hat ihm geholfen, selbständig zu werden. Der Kontakt zu Klaus W. ist nie abgerissen. Die gemeinsamen Erfahrungen sind ihnen bedeutsam. Trotzdem ist Ingomar nach einem guten Jahr aus der "Kronenburg" ausgezogen, "...sonst hätte ich meine Lehre nicht zu Ende gebracht". Die Ablenkungen waren zu stark, ständig passierte etwas anderes, neue Leute zogen ein...
Er ist damals auf‘s Land gezogen, in das Haus, in dem er heute noch lebt.

Eine Eichenallee führt zu dem Gehöft. Früher wurde es von einer Wohn-gemeinschaft bewohnt, Ingomar ist als einer der Letzten übriggeblieben. Seine Wohnung unter dem Dach ist ein einziger großer Raum. Ein breiter Tisch in der Mitte des Raums lädt zum Verweilen ein. Sorgfältig verteiltes Licht, Holz, viele Pflanzen und einige ausgewählte alte Uhren und Möbelstücke schaffen eine harmonische Atmospäre. Eine technisch gut ausgestattete Küchenzeile verrät, daß der Hausherr gerne kocht. Alles wirkt sehr aufgeräumt und an seinem richtigen Platz. Ingomar setzt einen grünen Tee für uns auf.
Auf dem Tisch liegt ein Buch über fernöstliche Philosophie. Ingomar ist Buddhist geworden. Er arbeitet nur so viel, wie er für seine bescheidene Lebensführung braucht. Dann packt er seinen Rucksack und reist für viele Wochen nach Asien. Er hat sich in Indien, Thailand, Kambodscha und Vietnam aufgehalten. Sein wichtigstes Prinzip ist, alle mitgebrachten Verhaltensweisen abzustreifen und sich so weit wie möglich auf das Leben dort einzulassen. Er hat mit den Menschen gelebt, in ihren Häusern gewohnt und sich wie sie fortbewegt. Es gibt keine Fotos von den Reisen. "Mit einem Fotoapparat hätte ich eine Barriere zwischen mir und den Menschen aufgebaut."
Das, was in der Weltpolitik vor sich geht, interessiert ihn nicht so sehr. "Mir geht es um mein inneres Gleichgewicht. Ich möchte meinen Frieden mit mir selbst finden. Das ist der Weg zum persönlichen Glück."

30. Oktober 1976
Bei Brokdorf finden erste Demonstrationen gegen den Bau eines Kernkraftwerkes statt. Dabei kommt es zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und rund 400 militanten Kernkraftgegnern, die den Bauplatz besetzen wollen. Die Polizei setzt Tränengas sowie Wasserwerfer ein und geht mit Schlagstöcken gegen die Besetzer vor. Im Laufe des Novembers nehmen die Auseinandersetzungen immer heftigere Ausmaße an.


Ich fahre nach Leipzig, um Uwe K. zu treffen. In einer ehemaligen Montagehalle am Stadtrand überwacht Uwe die Schweißarbeiten an einem gigantischen Flugkörper. Das stählerne Skelett gehört zur Ausstattung des jüngsten Spek-takels der Theatergruppe "Titanick". Geprobt wird eine Open Air-Inszenierung über den Menschheitstraum vom Fliegen.
Uwe gründete gemeinsam mit seiner Frau 1990 in Münster das Theater "Titanick". Am Anfang stand die Vision eines ungewöhnlichen Theaterstils: spektakuläres Open-Air-Theater, bildhaft und stimmungsvoll, begleitet von Live-Musik. Im Osten war gerade die Mauer gefallen. Es entstand eine Ost-West-Kooperation mit einer freien Theatergruppe aus Leipzig. Inzwischen hat sich "Titanick" zu einem internationalen Ensemble entwickelt, das weltweit erfolgreich auftritt. Der Durchbruch gelang mit dem Stück "Titanic": die Katastrophe inszeniert als Groteske. Das historische Schiffsunglück wird zur Allegorie auf jenen größeren Untergang, den die technisierte Welt sich selbst bereiten könnte.
Mit diesem Thema hat sich Uwe schon zu Zeiten der "Kronenburg" beschäftigt. Damals arbeitete er im Arbeitskreis Umwelt, einem der Vorläufer der grünen Partei, und engagierte sich in der Anti-AKW-Bewegung, die ab 1976 immer militantere Züge annahm. Bald war die "Kronenburg" ein strategischer Ort geworden, wo Demos und Blockaden gegen das geplante AKW in Brokdorf oder gegen den Bau der Startbahn West am Frankfurter Flughafen vorbereitet wurden. Aus der "Kronenburg" startete mehrfach ein eigener Bus zu den Kundgebungen in der Wilstermarsch, und im Hüttendorf auf dem Bauplatz in Grohnde lebten monatelang eine ganze Reihe Leute aus der "Kronenburg". Einige von uns waren mit Bolzenschneidern und Spaten ausgerüstet... "Die Erfahrungen in Brokdorf und Grohnde waren einschnei-dend für mein späteres Leben", sagt Uwe. Beim Versuch, den Zaun aufzuschneiden, wurde er von einer Reizgasgranate getroffen. "Mir ging es plötzlich sehr schlecht, und man hat mich in das Krankenhaus nach Wilster gebracht. Später eröffnete mir der Arzt, daß ich ein Lungenödem hatte und knapp dem Tod entronnen war." Und dann, nach dem Ende seines Referendariats als Grund- und Hauptschullehrer 1980, kam das Berufsverbot. "Ein anonymer Bericht über meine Aktivitäten in der Anti-AKW-Bewegung war den Schuleinstellungsbehörden zugespielt worden. Die Anhörung lief darauf hinaus, mich zu kriminalisieren, mich in die Ecke der Gewalttäter zu drängen." Das Verfahren zeigte, daß AKW-Gegner wie Uwe K. jahrelang kontinuierlich überwacht und alle Daten über sie erfaßt wurden.

27. Februar 1975
Der Vorsitzende der West-Berliner CDU, Peter Lorenz, wird von Terroristen der "Bewegung 2. Juni" entführt, die inhaftierte Gesinnungsgenossen freipressen wollen.


Einen Tag später erhielt ich eine Vorladung bei der politischen Polizei. Sie wollte mein Alibi überprüfen. Ich wußte nicht genau, ob ich mich amüsieren oder Angst haben sollte. Und auch der verhörende Beamte schaute etwas verständnislos drein. Ich sah ihm einfach zu brav aus. Aber so harmlos sollte es nicht bleiben. Es waren anstrengende Jahre, die 70er. In der bleiernen Zeit des deutschen Herbstes nahm die polizeiliche Bespitzelung und Verfolgung auch der Münsteraner Aktivisten geradezu groteske Formen an. In dieser Zeit schlief ich ziemlich schlecht, und häufig wachte ich schweißüberströmt auf. Meine Albträume waren voller Verfolgungsszenen und Polizeiaufgebote.
Einen unserer damaligen 'Verfolger' möchte ich kennenlernen. Er durfte sich die Nächte um die Ohren schlagen, um die "Kronenburg" zu observieren. Wie hat er sich denn gefühlt – genau so jung wie wir, auf der anderen Seite der Barrikade? Hat er den Begründungen für seinen Einsatz Glauben geschenkt, findet er sie heute noch angemessen? Wie sah er die 'Burg'-Bewohner?

Heute hilft die Partei, die aus diesen politischen Kämpfen hervorgegangen ist, den Überwachungsstaat zu perfektionieren. Es gibt keine echte Opposition mehr gegen die Gesetzesanträge aus dem Hause Schily, – selbst einmal Grüner und engagierter Verteidiger von politischen Gefangenen.
Uwe und ich fühlen uns in die 70er Jahre zurückgeworfen. Ist das der Preis, um mitregieren zu dürfen? Muß die Beteiligung an der Macht zwangsläufig dazu führen, einen Großteil der vorher gültigen Prinzipien über Bord zu werfen? Geht es nicht schon längst nur noch um den Erhalt der persönlichen Macht? Wo sind unsere Hoffnungen geblieben, die wir mit der Partei der Grünen verbunden haben?
Uwe suchte nach dem Berufsverbot nach anderen Arbeits- und Ausdrucks-möglichkeiten und begann in Paris eine Theaterausbildung. "Die Theaterarbeit ist für mich auch eine Fortsetzung meines politischen Engagements auf andere Weise", sagt er. "Unsere Themen haben mythischen Charakter. Uns geht es um das Spannungsfeld zwischen Mensch, Natur und Technik. Es soll anrührend und komisch sein. Alle Sinne werden angesprochen. Das heißt für mich, den kritischen Sinn zu schärfen. "Titanick" hat in Münster seinen Sitz, Stadt und Land fördern das Projekt. "Wenn ich an der "Kronenburg" vorbeifahre, berührt mich das noch heute", lächelt Uwe. "Das war eine Zeit, die vergißt du einfach nicht."

Ich gebe den Namen R. M. in die World-Wide-Web-Suche ein. Sekunden später baut sich das Bild eines Medizinprofessors mittleren Alters auf dem Bildschirm auf. Die Hände lässig in den Taschen des Arztkittels und um die Mundwinkel einen leicht zynischen Zug, – so ist er mir im Gedächtnis geblieben. Und obwohl der Bart und die langen Haare nun weg sind, würde ich ihn jederzeit auf der Straße wiedererkennen.
R., seine Frau und ihr erstes Kind waren eine der drei Familien, mit denen ich im ersten Jahr der "Kronenburg" zusammenlebte. Gemeinsamer Kinderdienst war obligatorisch. Die lieben Kleinen beherrschten das Spiel, die Erwachsenen gegeneinander auszuspielen, perfekt. Es setzte nie einmal verdiente Schläge auf den Hintern, dafür machten sich die Erwachsenen gegenseitig für ihre Erziehungsdefizite fertig. Die kleinen Scheißer konnten einem den letzten Nerv rauben. Morgens um sieben stürmten sie mit Indianergeheul – "Kinderdienst, Kinderdienst!" – in unsere Zimmer und rissen die Decken weg, an die wir uns verzweifelt klammerten. Irgendwann entdeckten sie meine Bleisoldatensammlung. Danach war nichts mehr sicher vor ihnen. Ich weinte ihnen keine Träne nach, als die Eltern die gemeinsame Kindererziehung für gescheitert erklärten und frustriert auszogen.

21. Juni 1974
Die am 5. Juni durch den Bundestag beschlossene sogenannte Fristenlösung
für den Schwangerschaftsabbruch wird durch eine einstweilige Verfügung
des Bundesverfassungsgerichts ausgesetzt.


R. M. war zusammen mit Gisela B. in der Sozialistischen Basisgruppe Medizin und damit einer der Initiatoren des "Kronenburg"-Projekts. Er arbeitete im Komitee gegen den § 218, und gemeinsam mit weiteren Medizinern aus der "Kronenburg" entstand der Plan, eine sozialmedizinische Beratungsstelle im Stadtteil aufzubauen. Ein Schwerpunkt sollte die Beratung zum Thema Schwangerschaftsabbruch sein. Im katholischen Münster hatte es bisher praktisch keine Abtreibungsmöglichkeiten gegeben. Mediziner- und Frauengruppe der "Kronenburg" kämpften gemeinsam für die ersatzlose Streichung des Paragraphen.
Heute ist R. Direktor eines Instituts für Strahlentherapie und Strahlenbiologie. Als renommierter Wissenschaftler richtet er internationale Kongresse an seinem Institut aus und jettet regelmäßig um die Welt, um an Tagungen und Forschungsvorhaben teilzunehmen. Es ist sehr schwierig, in seinem dichten Terminkalender ein kleines Plätzchen zu ergattern. Seine Sekretärin horcht neugierig auf, als ich, nach meinem Beweggrund gefragt, etwas von einem Dokumentarfilm und dem Nachdenken über die 70er Jahre murmele. Sie erklärt mir, daß es sehr schwierig ist, den Herrn Professor zwischen zwei Tagungen – "...und dann hat er ja auch noch die Behandlungstermine, wissen Sie!" – zu erreichen. Einige Wochen später ruft R. zurück. Wir haben uns seit 1975 nicht gesehen. Nun erfahre ich, daß er noch seine Doktorarbeit über die Konzeption eines medizinisch-sozialen Beratungszentrums geschrieben hat. Ob es das letzte Mal war, daß sich R. mit solchen Fragen beschäftigt hat? Ich bin sehr neugierig darauf, R. zu treffen und habe viele Fragen an ihn.
Heute benutzen die Befürworter der verbrauchenden Embryonenforschung das Recht der Frau auf Abtreibung als zynisches Argument für ihre Sache. Wer für Abtreibung ist, darf keine Einwände gegen die Tötung von Embryonen haben! Wie steht R. dazu? Möchte er noch daran erinnert werden, was er während der "Kronenburg"-Zeit in einem Diskussionspapier schrieb: daß im Kapitalismus "der Medizin primär die Funktion zukommt, die beschädigte Arbeitskraft für den Produktionsprozess wiederherzustellen"?

Der damalige Plan, ein medizinisches-soziales Beratungszentrum in unserem Stadtteil aufzubauen, scheiterten bereits im Ansatz.
Dafür entwickelte sich unsere Kneipe zum Anziehungspunkt für alle, die die gesellschaftlichen Normen nicht akzeptieren wollten oder konnten. Eine feste Tresenmannschaft aus Ex-Knackis entstand. Sie sorgten dafür, daß immer sehr viel mehr Bier über den Tresen ging, als abgerechnet wurde. Aber wir waren ja begeistert, daß sie kamen und wir uns um sie kümmern durften. Das Wort Resozialisierung haben wir natürlich nicht in den Mund genommen. Ich meldete auf meinen Namen einen alten Transit-Transporter an. Damit sollten sich die Ex-Knackis eine Möbeltransportfirma aufbauen. Ihre Existenzgründerperspektive sah allerdings etwas anders aus. Bei einem zufälligen Besuch mußte ich feststellen, daß das Zimmer eines meiner Knacki-Freunde bis unter die Decke mit nagelneuen Bosch-Hämmern vollgestapelt war. Auch wenn er zum Transport von Diebesgut eingesetzt wurde, – den Transit haben wir ihnen trotzdem gelassen.
Das offizielle Münster lehnte uns ab, und die Polizei hatte ein wachsames Auge auf uns. Das hinderte das Jugendamt allerdings nicht daran, zuerst einmal bei uns anzurufen, wenn ein jugendlicher Treber im Stadtgebiet aufgegriffen wurde, und uns zu bitten, ihn bis auf weiteres in der "Kronenburg" unterzubringen. Mit Elan legten wir uns für alle, die wir für unterprivilegiert hielten, ins Zeug. Wir gründeten eine Selbsthilfegruppe für alleinerziehende Mütter und schrieben mit ihnen eine Sozialhilfebroschüre, die später sogar Mitarbeiter des Sozialamts verteilten.
Mit einem pensionierten Mitarbeiter des Jugendamtes werde ich mich treffen. Hatten sie keine Angst, uns Jugendliche anzuvertrauen, die wir hätten 'verderben' können? Oder wollte man alles 'Gesindel' (inclusive uns) an einem überschaubaren Ort unter Kontrolle haben?

Es ist nicht einfach, Werner M. zuhause anzutreffen. Er ist den ganzen Tag unterwegs. Am Telefon hat seine Stimme müde und angestrengt geklungen. Einen Telefonanrufbeantworter lehnt er ab. Für ihn ist alles Teufelszeug, was die Drehung der Erde noch mehr beschleunigt. Werner sammelt Bücher. In seiner Wohnküche mit Schlafecke kann man sich kaum drehen. Alles ist mit Büchern zugestellt. Werner entschuldigt sich nicht wirklich ernsthaft für die Unordnung und spült ein paar Tassen für den Tee. Schon in seiner Zeit als Wirt unserer Kneipe muß er ein Büchernarr gewesen sein, nur daß mir das damals nicht aufgefallen ist.
Werner hat sich ein paar Tage frei genommen. Seit neun Jahren arbeitet er bei einer Baufirma. Buchführung, Disposition, neue Aufträge aquirieren, – ohne ihn läuft fast nichts in dem kleinen Betrieb. Sein Chef weiß es nicht zu schätzen. Das Gehalt ist zu niedrig. Schon lange will er da raus. "Ich kann keine Chefs mehr ertragen." Werner möchte einen alten Traum wahrmachen: Sein eigenes Bücherantiquariat. Er weiß auch wo: in einem 'Antiquaratsdorf' in der Nähe von Bitterfeld. Schon mehrmals ist er dort gewesen. Aber vor dem Schritt, endgültig alle Zelte abzubrechen, zögert er noch. Obwohl er weiß: "Ich bin jetzt 55 Jahre alt. Viel Zeit habe ich nicht mehr, wenn ich noch mal etwas Neues anfangen will."
Werner nimmt eine Fotografie von der Wand. Sie zeigt eine junge Frau mit ihrem Mann und einem neugeborenen Kind. "Das ist Rebecca. Kannst Du Dich noch an sie erinnern? Ist sie nicht eine hübsche Frau geworden?"
Ich erinnere mich an Rebecca mit ihren dicken, wuscheligen braunen Haaren. Damals war sie drei Jahre alt und pflegte auf allen vier Etagen abwechselnd zu frühstücken.

Maria B. war im Februar 1975 auf der Suche nach einem Zimmer im Haus aufgetaucht. Mit dabei hatte sie ihre Tochter Rebecca, eine Plastiktüte mit Wäsche und eine Violine. "Ihr werdet Euch wohl gewundert haben, daß ich nicht ein Stück Möbel dabei hatte, als ich eingezogen bin", lacht Maria. Ich sitze ihr in ihrer gemütlichen Wohnküche gegenüber. An der Wand hängt ein Foto von Rosa Luxemburg mit einem Zitat, das auch über meinem Schreibtisch hängt: "Es ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer das laut zu sagen, was ist."
"Ich hatte mich damals von Rebeccas Vater getrennt," erzählt sie. "Ich hatte keine Ahnung, wo ich hin sollte, und habe die erstbeste Gelegenheit ergriffen. Du warst übrigens der erste, dem ich im Haus begegnet bin, Du hast mir die Etagen und die Zimmer gezeigt. Ich war damals mehr in der Hippie-Szene, wir haben viel gekifft und mein Freund hat auch härtere Drogen genommen. Rebecca will in ihrem Leben alles viel perfekter lösen, besser machen, als ich es geschafft habe. In Werner hat sie einen guten Ersatzvater gehabt." Maria lernte Werner in der "Kronenburg" kennen.
Marias Mutter war Lehrerin. Ihr Vater ist früh gestorben. Sie ist in einem Frauenhaushalt groß geworden. "Die Dinge wiederholen sich", meint sie mit Blick auf ihre Tochter. Maria wurde als Schülerin schwanger. Der Direktor wollte sie mit ihrem dicken Bauch nicht länger an der Schule sehen. Sie ging ab. In der "Kronenburg" wollte sie die Aufnahmeprüfung für die Musikhochschule schaffen. "Bestimmt habe ich euch mit meinem ständigen Gefiedel furchtbar genervt." Heute ist sie Lehrerin an einer Musikschule und spielt im Orchester Geige.
Nach der "Kronenburg"-Zeit zogen Maria und Werner zusammen. Ein ge-meinsamer Sohn wurde geboren. Werner ging auf den Bau malochen, um Geld für die Familie zu verdienen. Sein Studium, das er für die Kneipe unterbrochen hatte, hängte er endgültig an den Nagel. "Nach acht Jahren haben wir uns getrennt", erzählt Maria. Werner zog aus der gemeinsamen Wohnung aus, Maria blieb mit den beiden Kindern. "Die waren total gut in der Schule, obwohl ich nie mit ihnen Hausaufgaben gemacht habe. Ich mußte ja immer nachmittags in die Musikschule." Ihr Sohn hat ein Einser-Abitur hingelegt und studiert nun Jura und Physik. Maria wirkt selbst ungläubig angesichts ihrer begabten Kinder. Rebecca hat in Paris an einer Elitehochschule Wirtschaftswissenschaften studiert. "Dann bekam sie ihr erstes Kind und ich habe zum ersten Mal erlebt, daß meine Tochter, die immer so straight war und glaubte, alles mit ihrem Willen meistern zu können, vor den Anforderungen kapitulierte. Sie entschied sich für die Karriere ihres Mannes, der auch Wirtschaftswissenschaftler ist, und brach ihre Promotion ab. Inzwischen haben sie ein zweites Kind und wollen sich demnächst ein Haus bauen. "Ich habe den beiden einen Aufruf gegen den Krieg in Afghanistan geschickt. Bin gespannt, wie sie darauf reagieren. Sie sind ziemlich konservativ", sagt Maria und lacht.

Der Morgen ist kalt und klar. Über dem nahen Kanal liegt frischer, feuchter Nebel. Im Münsteraner Stadtteil "Muffi" stehen einstöckige, mit den Giebeln zur Straße gewandte Häuschen. Holländische Arbeiter, die von den Münsteranern "Moffen" genannt wurden, haben sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts errichtet. Sie waren für den Bau des Dortmund-Ems-Kanals und des Münsteraner Hafens angeworben worden. Jeden Morgen steht Werner um drei Uhr früh auf und trägt im "Muffi", noch vor seiner eigentlichen Arbeit, die "Westfälischen Nachrichten" aus. Seit 25 Jahren macht er das. "Na ja, da kommt nicht viel Geld bei rum, aber ich kann's gebrauchen, um meinen Sohn beim Studium zu unterstützen. Ich tu's auch gern. Das ist der einzige Moment des Tages, wo die Welt noch mir gehört." Werner steckt die Zeitungen in die dafür an den Hauseingängen angebrachten Halterungen oder schiebt sie unter den Türen durch.
Ein einsamer Frühaufsteher mit Hündchen kommt Werner entgegen. "Das ist Manni, den erkenn' ich schon von Weitem an seinem schleppenden Gang. Der wohnt hier über der Kneipe "Op de Dele". Früher hat auch Udo da gewohnt. Der hat sich den Hals gebrochen. Ist betrunken die Treppe runtergestürzt."
Udo, Manni und Peter kamen aus der Knacki-Szene, die bei uns eine Heimstatt gefunden hatte. Manni freut sich jedes Mal, wenn er Werner trifft. Wo denn Peter steckt, möchte ich wissen. "Der ist Unternehmer geworden", grinst Manni. "Das wäre mir zu anstrengend. Ich gehe ab und zu eine Wohnung streichen, das reicht mir voll." Ich bin überrascht und entschlossen, meinen Ex-Knacki-Freund aufzusuchen. Peter lebt mit seiner Frau nicht weit von der holländischen Grenze entfernt in der Kleinstadt Borghorst. Hier ist er seßhaft geworden und hat sich einen kleinen Landmaschinen-Betrieb aufgebaut. Wie ist es Peter gelungen, aus dem Milieu herauszukommen? Haben ihm die Erfahrungen mit uns geholfen, den ewigen Kreislauf 'Knast – Freiheit auf Bewährung – Knast' zu durchbrechen? Wie denkt er heute über unsere 'Resozialisierungsversuche' mit ihm und seinen Freunden? Wieso hat er es geschafft und die anderen nicht?

Maria gibt Geigenunterricht in der Musikschule. Geduldig übt sie mit ihren Schülern die Griffe ein. Sie hat einen guten Draht zu ihnen und nichts Pedan-tisches an sich. "Ich glaube, daß ich die richtige Arbeit für mich gefunden habe und mache sie gerne, auch nach all den Jahren. In der normalen Schule kommt die Kreativität, die musische Seite viel zu kurz. Im Musikunterricht kann ich einiges kompensieren und neue Türen aufstoßen." Mit dem ihr eigenen Schwung hängt sie sich die Violine über die eine, ihre Tasche über die andere Schulter und eilt mit großen Schritten zu ihrem kleinen Auto. "Jetzt bin ich allein in meiner Wohnung und habe mehr Platz und Zeit für mich. Lange Zeit habe ich mich mit Religion beschäftigt und bin regelmäßig in ein buddhistisches Zentrum gegangen. Jetzt lese ich intensiver die Zeitung und beginne mich wieder für Politik zu interessieren. Die Zeit der Innerlichkeit ist für mich vorbei." Maria geht zu Antikriegskundgebungen und möchte sich an politischen Aktionen beteiligen, weiß aber noch nicht recht, wie und mit wem. Sie ist entsetzt über den Gesinnungswandel der Grünen von einer ehemals pazifistischen Partei zu Wegbereitern neudeutscher Großmachtpolitik.

In Münster kumuliert die Woche im Besuch des großen samstäglichen Marktes auf dem Domplatz. Einträchtig stehen wohlsituierte Damen im Schottenrock neben bärtigen Wohlfahrtsempfängern mit Jutebeutel und feilschen um die Preise an der Käsetheke. Im nahegelegenen Marktcafé treffe ich mich mit Andreas S., einem weiteren Mitstreiter aus vergangenen Tagen. Andreas ist Sozialarbeiter, und sein Aussehen unterscheidet ihn kaum von den Jugendlichen, die er zu betreuen hat. Für mich ist Andreas so etwas wie ein 'Berufsjugendlicher'. Schon in der "Kronenburg" engagierte er sich für Trebegänger, die bei uns strandeten. Braungebrannt und mit kurzen schwarzen Haaren dürfte er in Neapel kaum aufgefallen sein, wo er die letzten 10 Jahre verbracht hat. Mit seiner italienischen Frau arbeitete er in der Niederlassung eines internationalen Parcel-Service, die der Familie seines Schwiegervaters gehört. Die Arbeit hat die Beziehung kaputtgemacht. Immer pendelte er zwischen Deutschland und Italien. Früher besuchte er seinen inzwischen erwachsenen Sohn in Münster, jetzt fährt er Richtung Süden, um den Kontakt zu seinem achtjährigen Sohn in Neapel nicht zu verlieren. Das Handy klingelt und Andreas klärt noch schnell, mit welchem Wagen er und seine Jugendlichen zu einem Rock-Konzert nach Oberhausen fahren. "Wo arbeitest du jetzt?", möchte ich von ihm wissen. "Na, im gleichen Projekt wie früher. Ich betreue Jugendliche in Jugendwohngemeinschaften. Die haben mir da meine alte Stelle freigehalten", grinst er.
Meiner Filmidee steht er eher zurückhaltend gegenüber. "Laß uns lieber nach Neapel fahren. Da kenne ich einen Haufen interessanter Leute, da kannst du spannendere Filme drehen." Alte Erinnerungen steigen auf von gemeinsamen Reisen nach Rom. Auf Kundgebungen lauschten wir andächtig den Reden der Anführer von "Lotta Continua", die die Kämpfe um bessere Lebensbedingungen aus der Fabrik in die Stadtteile tragen wollten.
In ähnlicher Weise beabsichtigten wir, unseren Stadtteil zu beleben. Das ganze hatte einen Schönheitsfehler: Wir waren keine Fabrik und hatten uns die falsche Stadt ausgesucht. Münster ist seit Jahrhunderten eine Kaufmannstadt, eine nennenswerte Arbeiterschaft hat es nie gegeben. Dafür aber ist jeder sechste Einwohner Student. Das änderte nichts an unseren hochfliegenden Plänen. Wir Studenten und Studienabgänger wollten möglichst viele 'Werktätige' im Haus haben und lockten sie mit günstigen Mietpreisen an. Jeder Azubi, der sich zu uns verirrte, wurde begeistert aufgenommen. Wir wünschten sie uns so, wie sie waren, sie sollten als Beweis dafür herhalten, daß die "Kronenburg" kein Projekt privilegierter Bürgertöchter und -söhne war. Natürlich kam alles ganz anders. Plötzlich begannen sich unsere 'Werktätigen' nach Plätzen an Abendschulen umzuschauen. Nichts interessierte sie mehr, als so schnell wie möglich das Abitur nachzuholen und einen Studienplatz zu ergattern. Aus unseren vergötterten Lehrlingen, Arbeitern und Angestellten wurden ganz gewöhnliche Studenten. Oder doch nicht so gewöhnliche? Haben die Erfahrungen dieser Jahre für die 'werktätigen' Kinder eine andere Bedeutung gehabt als für uns Kinder mit bürgerlichem Hintergrund?

Neben der Hausband "BKA" und der Münsteraner "Törner-Stier-Crew" spielte auch einmal die Blueslegende Jampion Jack Dupree in unserer rauchge-schwängerten Kneipe. Zwar gelang es uns nicht, die Kultband "Ton, Steine, Scherben" zu einem Gig zu überreden, doch kam wenigstens die Theater-Gruppe des besetzten Tommy-Weißbecker-Hauses aus Berlin zu einem mehrtägigen Aufenthalt nach Münster. Ihre Perfomance war überwältigend, und wir mußten die Kneipe anschließend eine Woche schließen, um wenigstens die gröbsten Schäden zu beseitigen. Die Großstadt-Jugendlichen waren größtenteils noch nie aus der Frontstadt herausgekommen und hatten ihren heiligen Spaß, als Horde Bürgerschrecks über den beschaulichen Münsteraner Prinzipalmarkt zu laufen, dessen prinzipielle Machtverhältnisse seit den Zeiten der Wiedertäufer nicht mehr in Frage gestellt worden waren.
Neuerdings findet im Sommer ein Fest im Hafen statt, den die Stadt Münster, um den Anschluß an die 'Postmoderne' nicht zu verpassen, zu einem Zentrum der Loft- und IT-Szene umgewandelt hat. Im "Luf" sitzen die Yuppies, schauen den gemächlich vorbeituckernden Frachtkähnen nach und jammern über den Kursverfall am New Technology-Markt. Ausgerechnet beim "Hafenfest" versammelt sich ein kleiner versprengter Trupp von ehemaligen Bewohnern und Kneipengängern der "Kronenburg", um ihrer alten Kult-Band "BKA" zuzujubeln und natürlich auch ein bisschen sich selbst zu feiern. Die ergrauten Musiker intonieren einen stampfenden Beat, und aus den Liedzeilen, die über das Kopfsteinpflaster wehen, leuchten ein paar Bilder aus alten Zeiten auf.

Johannes S. war der Gitarrist und Song-Writer. Heute betreibt er gemeinsam mit seiner Frau ein Büro für Grafik-Design und Werbung. Johannes hat einen selbstgebackenen Kuchen auf den Holztisch im Garten seines Einfamilienhauses gestellt. Gleich nebenan wohnen die Schwiegereltern. Während des Gesprächs müssen wir einmal umziehen, da der pensionierte Schwiegervater zur fest-gelegten Stunde den ohnehin schon kurzen Rasen mähen möchte. Die dörfliche Umgebung wirkt friedlich, aber gerade dieser Eindruck läßt mich einige Dramen hinter den vorgezogenen Gardinen befürchten. Johannes gehörte zu den Berufstätigen der "Kronenburg". Er hatte eine Druckerlehre abgeschlossen und die Aufnahmeprüfung für ein Grafik-Design-Studium bestanden.
"Die "Kronenburg"-Zeit war wahnsinnig aufreibend", erinnert sich Johannes. "Ständig politische Termine. Dazu kam, daß ich malochen gehen mußte, um mein Studium zu finanzieren. Ich habe jahrelang Tennisplätze angelegt. Die dicken Oberarme, die ich dabei bekommen habe, konnte man ja auch sonst gut gebrauchen." Johannes hat den Arbeitskreis Umwelt mitgegründet und sich bei allen Anti-AKW-Aktionen beteiligt. Auch für politische Gefangene setzte er sich damals ein. "Es war eine Gratwanderung. Die Militanz, mit der wir vor
gingen, und die Angst, die wir dabei hatten. Ich habe mich oft sehr gefürchtet. Wir waren ja wirklich bereit, alles zu geben, um den Bau der Atomkraftwerke zu verhindern. Gleichzeitig gab es unter uns etwas sehr Verbindliches. Ein echtes Gemeinschaftsgefühl und gegenseitiges Vertrauen."

10. Juli 1976
Durch eine Explosion in einem Chemiewerk kommt es im oberitalienischen Seveso zu einer der größten Umweltkatastrophen dieses Jahrhunderts. Hochgiftiges Dioxin wird freigesetzt.


Die Zuspitzung der politischen Kämpfe in den 70er Jahren hat Johannes auch als persönliche Wegscheide in seinem Leben empfunden: "Da standen auf einmal nur noch zwei Möglichkeiten offen. Die fortgesetzte Militanz hätte zur RAF oder ähnlichen Strukturen geführt. Die ersten Toten waren schon absehbar. Die Alternative war der nichtmilitante Weg. Ich habe mich für letzteren entschieden."
Johannes schloß sein Grafik-Design-Studium ab und fing in einer Werbeagentur an. Als er sich selbständig machte, konnte er einige Kunden zu sich herüberziehen. Johannes zeigt mit der Hand um sich. "Du siehst, ich habe mir eine gewöhnliche bürgerliche Existenz aufgebaut. Ich führe kein 'Bohème-Leben'", sagt er. "Obwohl es vielleicht auch für mich eine Nische im künst-lerischen Bereich gegeben hätte." Johannes erzählt mit Respekt und ein bißchen Wehmut von zwei alten Freundinnen, denen das gelungen ist. "Vielleicht haben sie es geschafft, wenigstens einige unserer Ideale vom freien Leben zu verwirklichen." Seine beiden kleinen Töchter sind vom Spielplatz zurückgekehrt und stürzen sich jubelnd in seine Arme. Der Schwiegervater sitzt im Wintergarten und betrachtet hinter einer Zeitung versteckt mißtrauisch unsere Zusammenkunft. "Was hat Dir die "Kronenburg" bedeutet?" möchte ich von Johannes wissen. "Die "Kronenburg" war ein Kommunikationszentrum, ein Katalysator. Aber auch eine Art Zuhause für mich. Ich habe meine Kindheit teilweise im Heim zugebracht. Damit hat sicher auch mein Wunsch zu tun, immer alles zusammenhalten zu wollen. Das war schon in der "Kronenburg" so. Das, was ich heute am meisten vermisse, sind die gemeinsamen sozialen und politischen Bezüge. Warum haben wir heute nichts mehr miteinander zu tun?"

1. Februar 1977
Die erste Ausgabe der Zeitschrift "Emma. Eine Zeitschrift für Frauen von Frauen", herausgegeben von der feministischen Journalistin Alice Schwarzer, erscheint in der Bundesrepublik.


Gaby B. gehört zu den Frauen, in die ich einmal heftig verliebt war. In der "Kronenburg" lernte sie Uwe K. kennen und blieb einige Jahre mit ihm zusammen. Heute ist sie Grundschul-Lehrerin und lebt in Bremen. Ich stehe vor einem typisch bürgerlichen Wohnhaus aus der Gründerzeit mit Gesindeeingang und Küche im Souterrain. Auf der breite Holztreppe kommt mir ein kleiner zotteliger Hund auf Dackelbeinen entgegen gerannt. Er ist der Urenkel von Tönnies, dem Hund, den sich Gaby und Uwe in der "Kronenburg" angeschafft hatten. Nicht nur der Hund, auch das Durcheinander des Hauses und die selbstgebauten Hochbetten erinnern mich an die "Kronenburg". Gabi hat ihren kleinen Sohn zu Bett gebracht, und ihr Mann bereitet Fischfilet für das Abendessen vor. "Bis vor kurzem haben wir mit der anderen Familie im Haus die Räume gemeinsam benutzt, doch dann ist mir das zuviel geworden. Jetzt haben wir unseren eigenen Bereich", erzählt Gaby. Von uns allen scheint sie es am längsten in einer Wohngemeinschaft ausgehalten zu haben.
Montags war in der "Kronenburg"-Kneipe Frauentag. Dann stand Gaby hinter der Theke. Außerdem kümmerte sie sich um die Hausverwaltung und trieb die rückständigen Mieten ein. Gemeinsam mit weiteren Mitgliedern aus dem Vereinsvorstand wohnten wir im obersten Stock des Hauses, der von anderen Bewohnern als "Chef-Etage" belächelt wurde. Gaby hat bis heute nichts von einem "Chef" an sich. Die schlichten und pragmatischen Einrichtungsgegenstände der Wohnung zeigen, daß materielle Güter in ihrem Leben keine große Rolle spielen.
"Ich möchte Dir etwas zeigen". Im "Wiener Viertel", einem alten Bremer Stadtteil mit engen Gassen, liegt hinter einer großen efeuumwachsenen Holztür eine andere Welt verborgen. Durch eine Schiebetür betritt man einen "Dojo", einen Raum für japanische Kampfsportarten. Die Wände sind weiß gestrichen und der Boden mit Matten ausgelegt. Darauf üben zwei Paare in weißen Hemden und grauen Röcken. Ihre Schritte erinnern mehr an einen Tanz als an einen Kampfsport. Gaby führt mit einem langen Stock schnelle und langsame Bewegungen um ihren Partner aus. Was fasziniert sie an Kinomichi, das sich aus dem japanischen Kampfsport Aikido entwickelt hat? "Beim Kinomichi gibt es keine Angriffssituation. Es ist die Freude an der Bewegung. Wie beim Aikido geht es darum, dein energetisches Potential zu nutzen. Aber mit dem Unterschied, daß du dein Gegenüber nicht als Gegner, sondern als Partner betrachtest. Aus der Konfrontation entsteht Kontakt. Statt um Selbstverteidigung und Kampfkraft geht es um Harmonie und energetische Balance." Zweimal pro Woche übt Gaby Kinomichi und bringt inzwischen auch anderen die japanische Bewegungskunst bei. Für sie ein Weg, zu Konzentration und innerer Gelassenheit zu finden. Gemeinsam mit anderen, das ist ihr wichtig.

Warum dieser Film

In den vergangenen Jahren handelten meine Filme häufig von Menschen, die an eine Utopie glaubten und sie verwirklicht sehen wollten. Ich filmte Israelis und Palästinenser, die sich ein friedliches Nebeneinander auf der Grundlage einer Zwei-Staaten-Lösung vorstellen können. Ich drehte in Kuba, wo die sozialen und menschlichen Errungenschaften in die Brüche gehen, obwohl das Land in weiten Teilen Lateinamerikas immer noch als Vorbild eines Wohlfahrtsstaates gilt, den man auf dem lateinamerikanischen Kontinent vergeblich sucht. In der kurzen Wendezeit der DDR machte ich einen Film über die friedlichen Revolutionäre des Neuen Forums, die sich erfolglos für einen eigenen Weg jenseits von Realsozialismus und westlichem Kapitalismus einsetzten.
Aus dem Wettstreit der Systeme scheint ein eindeutiger Sieger hervorgegangen zu sein. "Wir brauchen keine Utopien mehr" ist die Devise der heutigen Zeit. Zum Beweis dient der Zusammenbruch der realsozialistischen Länder.

Die Beobachtung und Analyse der herrschenden Verhältnisse zwingt mich zu einer anderen Betrachtungsweise. Die Durchsetzung der Gesetze des Marktes als einziges Regulativ gesellschaftlicher Entwicklung gefährdet die Zukunft des gesamten Globus. In einer Welt, in der der Status des Menschen in erster Linie auf Geld und Macht aufbaut, kann nur eine kleine Anzahl Menschen daran teilhaben. Marginalisierung und Verunsicherung sind die Folgen, auf die die Menschen mit Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus reagieren. Ich erlebe die Demontage des Sozialen und den Verlust an politischer Souveränität als größte Herausforderung unserer Gegenwart. Ohne große Not werden die sozialen und politischen Standards, für die wir als junge Leute gekämpft haben, von den gleichen, nun älter gewordenen Leuten für überholt erklärt.

Bei der Rekonstruktion der Lebensentwürfe meiner ehemaligen Mitstreiter möchte ich die Bruchstellen herausarbeiten, die zu einer Veränderung der Sichtweisen führen und möglicherweise einen Prozess der Entsolidarisierung einleiten. Ich möchte herausfinden, ob diejenigen realitätsferne Spinner sind, die die Worte Schillers beherzigen: "Vergesse nie die Träume deiner Jugend!"
(Don Carlos)
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