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Amos Wollin

Der Sommer war zu Ende, der Herbst 1938 brach an, und die scharfen Auseinandersetzungen zwischen den Heim-Ins-Reich-Deutschen und den Tschechen, die auch immer nationalistischer wurden, erreichten ihren Höhepunkt. Es war Zeit zu gehen. Und in unserer Heimatstadt Leitmeritz packten meine Eltern schon ihre bewegliche Habe. Dann fuhren sie nach Prag. Ich war damals fünfzehn und wartete bereits in einem kleinen Prager Hotel auf sie. Am 22. oder 23. September 1938, eine Woche bevor sich Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier in München auf die Abtretung des Sudetenlandes an Hitler-Deutschland einigten, haben wir die Tschechoslowakei Richtung Palästina verlassen. Es war das allerletzte Läuten. Nur mein Großvater, einstmals k-u-k-Regierungsrat, blieb in Leitmeritz zurück. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Wir nahmen den Zug. Über Budapest und Bukarest fuhren wir nach Constanza, einer rumänischen Hafenstadt am Schwarzen Meer. Eine Woche warteten wir dort auf ein palästinensisches, das heißt: ein jüdisches Schiff. Im Herbst '38 gingen nur wenige Schiffe nach Palästina. Alle Passagiere brauchten ein Visum für's Heilige Land. Und dieses Visum gaben die Briten aus, die ja im April 1920 vom Völkerbund das Mandat über Palästina erhalten hatten. Visa waren schon '38 schwer zu bekommen. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs aber machten die Briten die Tore für europäische Juden praktisch dicht und begrenzten den jüdischen Bevölkerungsanteil auf ein Drittel der Gesamtbevölkerung Palästinas. Wir hatten Visa. In weiser Voraussicht der politischen Entwicklung, die da in Deutschland und Europa kommen sollte, hatte sich mein Vater – er war Allgemeinmediziner und Internist in Leitmeritz gewesen – bereits 1936 zur Emigration entschlossen. In Mitteleuropa sah er einfach keine Zukunft mehr für Juden. '36 war er zusammen mit meiner Mutter zum ersten Mal nach Palästina gereist. Sie besuchten Freunde, sahen sich das Land an. Und obwohl das Leben dort so anders, das Land arm war und nichts auch nur im entferntesten an Europa erinnerte, beschlossen sie auszuwandern. Dabei waren beide keine ideologischen Zionisten. Aber mein Vater war wohl auf seine Art ein pragmatischer Zionist.

Trotzdem er als tief humanistisch geprägter Mensch jeden Nationalismus verabscheute, war er sich sicher: In dieser Zeit der brandgefährlichen Nationalismen brauchen auch die Juden ihre nationale Heimat. Er sah keinen anderen Weg für die Juden, als so zu leben wie andere Völker auch: in einem eigenen Staat. Und deshalb versuchte er gar nicht, nach Großbritannien oder in die USA zu emigrieren. Es gab zwei Möglichkeiten der Einwanderung nach Palästina: das sogenannte Kapitalistenzertifikat und das Arbeiterzertifikat. Beides gaben die Engländer aus, und für beides gab es Quoten. Als "Kapitalist" mußte man eine bestimmte Summe nachweisen. Das konnte mein Vater. Durch eine jüdische Gesellschaft hatte er ein Stück Land in Palästina gekauft. Später stellte es sich zwar als völlig wertlos heraus. Aber formal war es vorhanden, und so bekamen wir Kapitalistenzertifikate. Mein Vater führte dann jahrelang erfolglose Prozesse gegen die Gesellschaft. Er fühlte sich betrogen. Das Land bestand aus Sanddünen am Mittelmeer, und das Kapitalistenzertifikat war so nicht auf echtes Vermögen, sondern buchstäblich auf Sand gebaut. Heute, ein halbes Jahrhundert später, wäre es sehr wertvolles Land. Damals freilich war es einfach nur sinnloser Sand.

Aber noch waren wir in Constanza. Nach einer Woche oder so fanden wir dann die Harzion, ein jüdisches Schiff, das uns und andere Flüchtlinge aus der Tschechei von Constanza nach Haifa brachte. Wir waren fünf Tage auf See. An die Leute und die Überfahrt kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Ich weiß nur: Es war für mich eine aufregende und deprimierende Reise in einem. Deprimierend, weil ich mich als Flüchtling fühlte und wußte, daß ich eine Welt verlasse, die ich vielleicht nie mehr wiedersehen werde. Und aufregend, weil ich mit meinen 15 Jahren ja in eine völlig neue Welt fuhr, in eine ganz ungewisse Ferne. Als wir Anfang Oktober in Haifa ankamen, waren die Nazis bereits im Sudetenland einmarschiert und auch unsere Heimatstadt Leitmeritz in ihren Händen. Wie es wohl Großvater ging? Er war fast 80, und er hatte doch immer das Leben eines wohlsituierten Lebemanns geführt.

Der Herbst '38 war turbulent in Palästina. Schon auf unserer ersten Fahrt von Haifa nach Tel Aviv wurden wir von Arabern angegriffen. Aber nicht mit Steinen wie heute, sondern mit Gewehren. Der Bus machte eine Vollbremsung, der Fahrer schrie: "Shkaf ala aretz!", "Alle Hinlegen!", und wir warfen uns auf den Boden. Es war eine Situation wie in dem damals populären Witz über orthodoxe Juden, wo ebenfalls ein Bus von arabischen Palästinensern überfallen wird und der Chauffeur auf Hebräisch: "Shkaf ala aretz!" schreit. Alle werfen sich zu Boden. Nur eine ältere orthodoxe Neueinwanderin bleibt sitzen. "Man schießt!", sagt sie ganz fassungslos auf Jiddisch, "und er redet Hebräisch!" Im Alltag gebrauchen viele Orthodoxe auch heute noch das Jiddische. Hebräisch, die heilige Sprache der Thora, lehnen sie als Staatssprache ab. Und ihre Liebe zu Palästina hat nichts mit den nationalen Ideen der Zionisten zu tun. Die mosaische Tradition ist das Alpha und das Omega ihres Lebens.

Nach unserer ersten Feuertaufe kamen wir in Tel Aviv an. Die Stadt war winzig und schäbig. Jeder schien jeden zu kennen, und Deutsch war sehr verbreitet. Von Tel Aviv fuhren wir weiter durch die exotische, aber karge Landschaft, durch arabische Dörfer, jüdische Siedlungen. Wir wollten zu Freunden in Gedera, eine Busstunde südlich von Tel Aviv. Dort lag eine der ältesten jüdischen Kolonien, gegründet von sogenannten Biluim, Auswanderern aus Rußland. Gedera war damals vielleicht südlichste jüdische Siedlung in Palästina überhaupt. Und am Ort lebte auch eine kleine Gruppe deutschsprachiger Einwanderer: Rechtsanwälte und Musiker aus Mähren, ein Ärztepaar aus Prag, Studenten aus Wien. Und unsere Freunde, bei denen wir untergebracht wurden.

Gedera war ein merkwürdiger Ort. Immer und überall trugen wir Waffen. Bei Tag haben wir mit dem Gewehr auf dem Rücken die Felder bearbeitet, und nachts gingen wir auf Shmirah: Wache schieben. Immer war man bereit, sich gegen einen Angriff zu verteidigen. Denn das Dorf war umgeben von arabischen Dörfern. Das seltsamste aber war das Verhältnis zwischen Juden und Arabern. Einerseits lebte man mit den palästinensischen Arabern in ständiger Spannung, andererseits aber hatte man mit ihnen tagtäglich geschäftliche Beziehungen. Man kaufte bei ihnen, verkaufte ihnen, arbeitete zusammen mit ihnen oder stellte sie als Landarbeiter ein. Und gleichzeitig fürchtete man sich vor ihnen.

Wegen unseres Kapitalistenzertifikats waren wir in Gedera irgendwie angesehen. Wir hatten es ja amtlich: Wir waren Kapitalisten. Leider aber hatten wir ein für Kapitalisten ungewöhnliches Problem: Wir waren Kapitalisten ohne Kapital, und wovon sollten wir eigentlich leben? Der Transfer, die Überweisung unseres Vermögens, auf den meine Eltern so lange gehofft hatten, zerschlug sich. Mein Vater hatte zwar einen Teil seines Geldes bei einem Prager Advokaten hinterlegt. Die tschechische Regierung aber ließ Auslandsüberweisungen nicht zu. Wir hatten also kein Geld. Mein Vater versuchte, ganz von neuem für uns eine Existenz aufzubauen. Dazu mußten wir uns trennen: Vater mietete ein kleines Zimmer in Tel Aviv, Mutter blieb in Gedera, und ich wurde in einen Kibbuz geschickt. In Tel Aviv versuchte Vater eine Arbeit als Arzt zu finden. Das freilich war so gut wie unmöglich. Ärzte gab es in Palästina wie Sand am Meer. Doch wie das Leben so spielt: Vater fand zwar keine Arbeit, dafür aber kam er zu einer Drei-Propeller-Junkers-Maschine.

Ins Rollen brachte die Sache ein Herr Duszinsky. Der junge Pilot war einst in Leitmeritz sein Patient gewesen und inzwischen nach England ausgewandert. Von dort unternahm er kommerzielle Flüge zwischen der Insel und dem Kontinent. Und aus irgendwelchen Gründen flog dieser Duszinsky einmal auch nach Tel Aviv und besuchte meinen Vater. Der erzählte ihm von den Transferschwierigkeiten, dem Anwalt, dem hinterlegten Geld. Duszinsky hörte sich alles an, flog wieder nach Europa – und handelte. Einige Tage später erhielt Vater ein mysteriöses Telegramm: "Ankomme Dienstag in Lidda. Mit Deinem Flugzeug." Lidda war der damalige provisorische Flugplatz bei Tel Aviv. Vater stand vor einem Rätsel. Was war geschehen? Auf seinen Flügen kam Duzsinky auch nach Prag, das, vor März '39, noch nicht von den Deutschen besetzt war. Dort besuchte er unseren Anwalt. Was für eine Räuberpistole er ihm erzählte, bleibt Duszinskys Geheimnis. Jedenfalls schaffte er es, das Geld meines Vaters zu bekommen. Mit diesem Geld und – wie sich dann leider herausstellte – dem Geld von anderen palästinensischen Juden, die ihm den Auftrag gegeben hatten, ein Flugzeug für die erste palästinensische Fluggesellschaft zu besorgen, kaufte er die Junkers. Und damit kam er in Lidda an. Die Situation war heikel. Der Gesellschaft gegenüber behauptete Duszinsky, es sei ihr Flugzeug. Und meinem Vater versicherte er, es sei sein Flugzeug. Und dann verschwand er schnell. Die Flugliniengründer waren sauer und verschwanden zunächst ebenfalls. Mein Vater aber stand mit der Junkers in Lidda. Dann begann ein jahrelanges Prozessieren zwischen der Gesellschaft und meinem Vater. Die Junkers aber stand in Lidda. In Wind und Wetter, festgezurrt an irgendwelchen provisorischen Pflöcken.

Nach einem heißen Sommer und einem nassen Winter, die Prozesse wurden verbissen weitergeführt, bin ich dann mit einem Traktor zum Flugplatz gefahren, um die Junkers in einen Hangar der Briten zu schleppen. Jeder Tag im Hangar kostete allerdings ein englisches Pfund, und schon bald wurde die Sache zu kostspielig. Ich fuhr also wieder nach Lidda, zog das Flugzeug aus dem Hangar und karrte es aufs offene Flugfeld. Wieder wurde es an den Pflöcken festgezurrt. Und wieder rostete es in Sonne und Regen vor sich hin.

Irgendwann gingen die Prozesse mit einem überraschenden Urteil zu Ende. Das Gericht sprach meinem Vater das Flugzeug zu. Aber es war ein merkwürdiger Sieg. Ein Verkauf der Junkers erwies sich als unmöglich. Es gab einfach keine Interessenten, und nicht einmal die verhinderten Fluglinengründer mochten das Ding noch haben. Auf dem Flugplatz konnte die Junkers auch nicht ewig herumstehen, der britische Hangar war zu teuer, und zum Wegschmeißen war sie einfach zu groß. Vater war verzweifelt. Er wollte das verdammte Flugzeug einfach nur noch loswerden. Nach langem Suchen fand er dann eine Firma, die die Junkers zu Übungszwecken demontierte. Und so endete die Sache: Das Geld war weg, das Flugzeug zerlegt, und wir mußten noch zuzahlen: für den Advokaten, die Prozeßkosten, für den Traktor und den Hangar.

Der Kibbuz war ein echter Kulturschock. Alles war für mich neu. Ich war ja nie vorher in einer zionistischen Bewegung gewesen. Die Jugendgruppe, zu der ich kam, stammte aus Wien und war sehr zionistisch-nationalbewußt erzogen und für das Landleben und den Kibbuz vorbereitet worden. Die Mehrheit der Kibbuzbewohner aber waren russische und polnische Einwanderer, meist Anhänger der Arbeitspartei. Ich war von Anfang an ein Außenseiter, ein Fremder. Ich hatte kein ideologisches Interesse am Zionismus, und das kollektive Leben, das dem Individuum feindselig gegenüberstand, empfand ich wie eine Strafe. Der Tag war genau eingeteilt: Landwirtschaftliche Arbeiten, dann Hebräisch-Studium, und am Abend lernte man den Umgang mit Waffen, verbrachte halbe Nächte auf Schießständen. Neu war für mich auch die Konfrontation mit den Arabern. Immer wieder kam es zu nächtlichen Schießereien. Unsere Gegner sahen wir aber nie. Wir schossen einfach ins Dunkle. Opfer gab es damals, zumindest auf unserer Seite, nicht. Ich erinnere mich nur an einen Toten: Gedalia. Er war der einzige Freund, den ich im Kibbuz hatte. Er kam aus Belgien und war etwas älter als ich. Zusammen mit einer jungen Frau lebte er abseits von den Wohnbaracken. In einem Zelt. Auch Gedalia fühlte sich fremd im Kibbuz. Sehr, sehr fremd. So fremd, daß er sich eines Tages umbrachte.

Zusammen mit Gedalia betreute ich eine Kaninchenzucht. Gedalia hatte sie aufgebaut Aber die Sache mit den Kaninchen war kitzlig. Denn nach den Kashrut-Regeln des Rabbinats waren sie nicht koscher. Und jedesmal, wenn ein Rabbiner aus Nataniya kam, mußten wir die Karnickelzucht camouflieren. Die durfte nicht existieren. Damals blies ich ein wenig Saxophon, und abends spielte ich manchmal die Kaninchen in den Schlaf.

Am 1. September 1939, einem Freitag, fielen die Nazis in Polen ein. Der Zweite Weltkrieg brach aus. Jeder in Palästina ahnte, daß der Krieg auch für uns große Veränderungen bringen würde. Und viele Juden wollten sich von Anfang an am Krieg beteiligen. Es ging ja gegen Nazi-Deutschland, und wir wußten: In Deutschland, in der Tschechei, in Polen und später auch in Frankreich, Belgien oder Holland waren Juden in Gefahr. Mit Kriegsausbruch verlor ich auch den Kontakt zu meinem Großvater in Leitmeritz. Das tat sehr weh. Ich wußte nur, daß er von den Nazis in ein Lager deportiert worden war. Viel später schrieb mir das Rote Kreuz, er sei Ende 1942 an einer "Darmverschlingung" gestorben.

Inzwischen wußte ich, daß ich mich nie und nimmer im Kibbuz einleben würde. Die Jugendgruppe wollte mich am Ende fast zur Entscheidung für den Kibbuz zwingen. Mit ideologischen Schwüren, feierlichen Gelöbnissen und beinahe mystischen Riten. Doch je größer der Druck wurde, desto klarer wurde mein Entschluß: Ich wollte weg. Und auch die Beauftragte für die Jugend-Aliya, Henriette Solt, die extra in den Kibbuz kam, um mich zu überreden, konnte daran nichts mehr ändern. Ich ging zurück nach Tel Aviv. Zu meinen Eltern.

Vater und Mutter lebten wieder zusammen. In einer Art Wohngemeinschaft mit einem Architektenpaar aus Wien. Weder die Wiener noch meine Eltern waren in der Lage, eine eigene Wohnung zu unterhalten. Vater hatte in der Zwischenzeit vom Vat Leumi, der damaligen jüdischen Regierung, Arbeit bekommen. Er wurde Leiter eines kleinen Spitals mit 40 oder 45 Betten in Nevei Zedek, ganz im Süden von Tel Aviv. Nevei Zedek ist eines der ältesten Viertel von Tel Aviv und war damals von tiefer Armut geprägt. Vor allem Neueinwanderer aus orientalischen Ländern lebten dort. Heute gilt es als werdendes Villen- und Künstlerviertel.

Das Spital war eine Einrichtung der besonderen Art: Ein Untergrundkrankenhaus, das offiziell nicht existierte. Die Patienten waren chronisch Kranke, die illegal eingewandert waren, so daß sie in anderen Krankenhäusern nicht aufgenommen werden konnten. Organisiert wurde die illegale Einwanderung vor allem von der paramilitärischen Haganah. Getarnt war das Spital als ganz normales Wohnhaus, das Personal bestand aus Freiwilligen. Offiziell wurde Vater vom Vat Leumi für seine Tätigkeit in einem legalen Einwandererlager bezahlt.

Irgendwie war der Vat Leumi von der britischen Mandatsregierung so halb anerkannt. Innerhalb des Mandats bestand die nationale jüdische Vertretung aus der Jewish Agency und eben dem Vat Leumi. Beide waren eine Art Selbstverwaltung für die jüdische Bevölkerung Palästinas, und sie vertraten die jüdischen Interessen gegenüber den Briten. Man könnte es mit der jetzt angestrebten Autonomieregelung für die Palästinenser vergleichen. Alle Belange wie Sicherheit und Souveränität blieben in den Händen der Briten, Erziehungspolitik, Gesundheitswesen usw. oblag der nationalen jüdischen Vertretung.

Ich wohnte also wieder bei meinen Eltern in Tel Aviv. Da ich ja keinen Schulabschluß hatte, machte ich zunächst einmal als Externist der London University die Matura. Und um ein wenig Geld zu verdienen, gab ich nebenbei Englischstunden. In Jerusalem schloß ich dann die Externistenprüfung mit dem Bachelor of Arts ab. Von den direkten Kriegshandlungen bekamen wir wenig mit. Nur einmal flog ein kleines italienisches Geschwader einen Bombenangriff auf Tel Aviv.

1942 meldete ich mich zur britischen Armee. Als Freiwilliger. Die Deutschen hielten halb Europa besetzt, und auch die Sowjetunion und die USA waren in den Krieg eingetreten. 1942 wußte ich zwar, daß die Nazis Juden in Lager pferchten, ermordeten, Greuel anrichteten. Aber von Zyklon B, der "Endlösung der Judenfrage", vom "Holocaust", dem wahren Ausmaß der Bestialität wußte ich nichts. Den Institutionen war zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich eine ganze Menge bekannt, der Bevölkerung aber vergleichsweise wenig. Ich hatte sogar den Eindruck, daß sich die Briten hüteten, diese Seite der Nazi-Herrschaft besonders hervorzuheben. In erster Linie hatte ich mich freiwillig gemeldet, um aktiv am Krieg gegen Nazi-Deutschland teilzunehmen. An einem Krieg, der gegen den Faschismus in Europa geführt wurde.

Ich kam zu einer palästinensisch-jüdischen Einheit. Es gab damals arabisch-palästinensische und jüdisch-palästinensische Truppenteile – streng voneinander getrennt. Die arabischen waren nicht gerade sehr zahlreich. Die jüdischen Nationalbehörden aber unternahmen alles, um möglichst viele Freiwillige zur Teilnahme am Krieg zu bewegen. Zum einen ging es ja gegen Hitler und zum anderen sollte aus den ausgebildeten Einheiten der Grundstock einer eigenen jüdischen Armee entstehen. Und das ist ja dann auch passiert.

Meine erste Tätigkeit beim Militär war ganz unmilitärisch: drei Monate Mobilisierungsdienst in Tel Aviv. Ich sollte für den Eintritt in die britische Armee werben. Während die einen in Kinos, Kneipen und Theatern flammende Reden hielten, andere gezielt "Drückeberger" oder solche, die sie dafür hielten, verprügelten, ging ich nach einer Adressenliste vor, die ich von einer Einwandererorganisation bekommen hatte. Gezielt besuchte ich deutschsprachige Juden und versuchte, die jüngeren für die britische Armee zu begeistern. Ich redete auf junge Männer ein, auf ihre Eltern, Onkel, Tanten. Ob meine Überredungskünste viel zur Mobilisierung beigetragen haben, weiß ich nicht. Tatsache aber ist, daß sehr viele Juden zur Armee gingen.

Meine militärische Grundausbildung erhielt ich in Sarafent, nicht weit von Tel Aviv. Auch sie dauerte drei Monate. Dann kam ich nach Raffa im heutigen Gazastreifen, anschließend nach Haifa und Anfang Sommer '43 nach Zypern. Dort blieb ich fast ein Jahr. Als Spieß, zuständig für die Disziplin meiner Einheit. Anfang '44 wurde ich nach Kairo geschickt. Zum Offizierskurs. Dabei ging es auch um Techniken des Verhörs. Von Kairo kam ich direkt nach Italien, zu einer Verhöreinheit in der Achten Armee. In Salerno gingen wir an Land und rückten auf Rom vor. Dann ging es weiter. Immer nordwärts. Bis ins steirische Graz. Und dort blieb ich erst einmal.

In Graz verhörten wir italienische, österreichische und deutsche Gefangene. Auch Gefangene "besonderer Kategorie". Wir sollten feststellen, ob diese Gefangenen, die alle unter Mussolini oder Hitler Karriere gemacht hatten, Kandidaten für die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse waren. Die "Belastung" eines jeden wurde geprüft. Meine Arbeit bestand in der Auswertung von Verhörprotokollen und Akten. Wir hatten Gefangene aus unterschiedlichsten Bereichen: Wehrmacht, Abwehr, SS, diplomatischer Dienst, Beamtenapparat. Etliche von ihnen hatten angesichts der drohenden Niederlage schon vor Kriegsende Kontakt zu den Alliierten aufgenommen. Und bei denen mußten wir nun herausfinden: Wie verläßlich sind die überhaupt? Wie sind sie belastet? Und wer ist innerhalb einer neuen Verwaltung wieder zu verwenden? Denn es ging auch schon um die Frage: Wer ist im Rahmen des Kalten Kriegs brauchbar? Der Zweite Weltkrieg ging ja fast nahtlos in den Kalten Krieg über. Aber das war uns damals noch nicht klar. In meinem Bewußtsein war ich wirklich und aus-schließlich mit der sogenannten "Entnazifizierung" beschäftigt. Und das war eine packende Arbeit. Wir hatten etliche prominente Nazis: die Ex-Gauleiter der Steiermark und Kärntens, Rainer und Überreither, oder den SS-General Wolf.

Ende '45 war diese Arbeit zu Ende. Für mich jedenfalls. Meine Einheit wurde aufgelöst, und ich kam in ein Transitlager. Da ich Deutsch, Tschechisch, Englisch und Hebräisch fließend sprach, habe ich innerhalb der Armee Übersetzungen gemacht und auf meine Demobilisierung gewartet.


Zuerst ging es wieder nach Kairo und von da in ein Transitlager. Es lag mitten in der Sinai-Wüste, und wir schliefen in schäbigen Zelten. Das einzig Festgebaute waren die Latrinen. Wenn Generationen nach uns je Ausgrabungen machen sollte, dann werden die einzigen Zeugen der britischen Armee auf dem Sinai diese sonderbaren Betonlatrinen sein. Und es fraglich, ob unsere Nachkommen je erraten werden, welchem Kult diese Bauwerke mitten in der Wüste wohl gedient haben mögen. Denn die Latrinen sahen aus wie ein Karussel. Der gebräuchlichste Typ war ein großer, kreisrunde Betondeckel mit 12 oder mehr Löchern. Auf diesen Löchern saßen die Soldaten mit heruntergelassenen Hosen und schauten in leicht versetztem Winkel in die Wüste.

Vom Sinai aus kam ich in ein palästinensisches Demobilisierungslager. Und im Herbst '46 ging's zurück ins zivile Leben. Ich wollte Medizin studieren. Mit Feuereifer machte ich mich daran, einen Studienplatz zu finden. Das war gar nicht so einfach. Es regnete, es hagelte Absagen. Alle Universitäten waren überbelegt. Ich wurde abgelehnt in Schottland, in Frankreich, in der Schweiz und in Italien. Dann versuchte ich es in Prag. Und dort wurde ich 1947 mit Müh und Not angenommen. An der Karls-Universität, an der einst auch mein Vater in deutscher Sprache studiert hatte. Und nicht nur er, sondern auch seine Vorfahren und Vorvorfahren. Eine ganze Dynastie von Ärzten, die ursprünglich Klepetasch hießen und aus Mittelböhmen stammten.

Prag hatte sich total verändert. Das Prag von '47 atmete eine ganz andere Atmosphäre als das von '38. Vor allem das jüdische und das deutsche Element fehlten. Und die vielen Emigranten, die Prag für eine kurze Zeit zu einer internationalen Stadt gemacht hatten. Kurz: Das Prag, das ich so attraktiv fand und dessen architektonische Brillanz sich verband mit spannenden Menschen, dieses Prag gab es nicht mehr.

Ich nahm mein Medizinstudium an der Karls-Universität auf. In Tschechisch. Sprachprobleme hatte ich nicht. Ich war mit zwei Sprachen aufgewachsen: Deutsch und Tschechisch. Damit ich beide Sprachen möglichst gleich gut beherrsche, hatten mich meine Eltern erst in eine deutsche Volksschule geschickt, dann in eine tschechische und schließlich auf ein deutsches Realgymnasium. Gleichzeitig war ich Mitglied in einem tschechischen akademischen Club. Dort habe ich als Saxophonist Jazz gespielt. Die zweigleisige Erziehung war damals ungewöhnlich. Normalerweise blieben die Tschechen unter sich und die Deutschen auch. Ich glaube, gerade die Doppelsprachigkeit und die Berührung mit beiden Nationen hat mich sehr geprägt: gegen rassistische Vorurteile und gegen die wechselseitige Ablehnung, die bald schon in Haß umschlug. In der Tschechoslowakei der 30er Jahre habe ich den Nationalismus hassen gelernt, und das hat später sicher auch zu meiner durchweg anti-nationalistischen Haltung in Israel beigetragen. Deshalb ist es mir auch so schwer gefallen, mich in die Atmosphäre des Kibbuz einzuleben. Ich war nie Zionist. Und ich war, heißt: Ich bin es auch heute nicht.

Trotz meiner massiven Ablehnung der Haltung der Hennlein-Sudetendeutschen vor und nach dem Abkommen von München und trotz der Tatsache, daß sie es ja waren, die uns zur Emigration zwangen, habe ich dennoch die kollektive Vertreibung von drei Millionen Deutschen aus dem Sudetengebiet nach '45 scharf verurteilt. Denn die Vertreibung erfolgte ausschließlich nach ethnischen Gesichtspunkten. Ohne Rücksicht auf politische Haltung und Taten des einzelnen. Bleiben konnte nur, wer nützlich war für die tschechische Wirtschaft.

Ich besuchte also meine Vorlesungen Seminare und Praktika. Und um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, fing ich zu schreiben an. Ich wurde ganz nebenbei Journalist und arbeitete für Blätter in Österreich und in der Schweiz, beim tschechischen Rundfunk für die deutsch- und englischsprachigen Kurzwellensendungen, und ich schrieb Kommentare über Kultur- und Jugendfragen fürs Radio. Damals traf ich auch den alt gewordenen und herzkranken Egon Erwin Kirsch. Er zwickte immer noch gern junge Frauen in den Popo und war ein amüsanter, wenn auch etwas trauriger Mann.

Das Jahr 1948 brachte einschneidende Veränderungen. Im Februar wurde die Regierung von Benes abgesetzt. Die Kommunisten übernahmen die Macht. Das war eine aufregende Geschichte, und selbst als Auslandskorrespondent überschaute ich die Entwicklung nicht. Die entscheidenden Dinge spielten sich geheim, wie hinter einer Wand ab. Und wenn es denn eine historische Wahrheit über jene Zeit gibt: Ich kenne sie auch heute nicht.

Das wichtigste Ereignis war für mich aber der 14. Mai 1948: David Ben Gurion proklamierte den souveränen Staat Israel. Ich war ja die ganze Zeit in möglichst enger Tuchfühlung mit Palästina geblieben. Ich stand in Verbindung mit der nationalen jüdischen Vertretung, die es schon vor der Staatsgründung in Prag gab und deren Hauptaufgabe der Kauf von Waffen war. Und unmittelbar nach der Staatsgründung lernte ich auch die neuen, nun offiziellen Vertreter Israels kennen. Aufgrund meines Studiums und wegen eines Herzleidens, das ich mir im Zweiten Weltkrieg zugezogen hatte, wurde ich von ihnen zunächst meiner Dienstpflicht in der neuen israelischen Armee enthoben.

Die Staatsgründung war für mich ein Akt der Befreiung. Der Befreiung vom Kolonialismus der Briten. Endlich hatten wir ein eigenes Land, das unter positiven Vorzeichen stand. Eine neue Art von Staat im Nahen Osten: neutral, demokratisch, fortschrittlich. Getrübt wurde die Freude natürlich durch den Angriff der Ägypter, Jordanier, Syrer, Libanesen und Iraker auf Israel. Ich hatte Angst um meine Familie, mit der ich in Kontakt zu bleiben versuchte.

Zusammen mit zwei arabischen Medizinstudenten, der eine war aus Jerusalem, der andere aus Gaza, bin ich auf Studentenversammlungen aufgetreten. Wir warben für die Staatsgründung und traten gegen den Krieg ein. Wir dachten, ein friedliches Zusammenleben von Juden und Arabern müsse möglich sein. Freunde machten wir uns damit nicht. Die israelischen Diplomaten konnten nicht verstehen, warum ich ausgerechnet mit Arabern, die uns ja gerade überfallen hatten, auftrat. Und die beiden arabischen Kommilitonen machten sich bei den arabischen Vertretungen auch nicht gerade beliebt, weil sie gemeinsam mit einem israelischen Juden für Frieden eintraten.

Die Tschechoslowakei hatte damals eine ganz besondere Bedeutung für Israel. Sie war eines der wenigen Länder, die den neuen Staat mit Waffen versorgten, Truppen und Piloten trainierten. Viele Israelis reisten extra an, und zahlreiche junge Juden, die noch in der Tschechoslowakei lebten, wurden militärisch ausgebildet, um dann nach Israel zu gehen. Damals bestand eine enge Verbindung zwischen der tschechischen kommunistischen Partei und den Kommunisten Israels. Der israelische Parteichef Goschansky kam dann bei einem Flug von Prag nach Tel Aviv ums Leben: Er stürzte über Griechenland ab.

Ich war ein Kriegsgegner. Dennoch wußte ich, daß die Waffenlieferungen, die militärische Unterstützung, die die Tschechoslowakei und später auch die Sowjets leisteten, für das Überleben Israels ganz entscheidend waren. Die Notwendigkeit eines eigenen Staates stand für mich nie in Zweifel. Nur der politische Weg, den der neue Staat bald einschlug, war nicht meiner. Schon warf der Kalte Krieg seine bösen Schatten und Israel wich ab von der ursprünglich neutralen Position zwischen Ost und West. Es kam unter den Einfluß Washingtons. Und täglich wich auch die Distanz zwischen Osteuropa und Israel.

Ich hatte gute Kontakte zu Politikern und Intellektuellen, und ich spürte die politischen Veränderungen hautnah. Vor allem die immer stärker werdende Feindschaft der tschechischen Regierung gegen den Westen. Gleichzeitig wuchs die teils berechtigte Kritik an der israelischen Politik, aber auch massive Vorurteile gegenüber dem jüdischen Staat tauchten mehr und mehr auf. Und nach und nach erfaßten die Vorurteile eigentlich alles Fremde. Egal, ob es nun deutsche Antifaschisten waren oder Ex-Nazis.

Im Verlauf von '49 und '50 spitzte sich die Situation zu. Die ersten Anzeichen einer spätstalinistischen Hexenjagd auf Abweichler aller Couleur, politisch oder religiös, zeichneten sich ab. Ich erinnere mich an einen jüdischen Bekannten, der auch im Ledna-Block wohnte. Demselben Haus wie ich. Er hieß Oskar Kosta, und er war ein bekannter Antifaschist. Den Krieg hatte er in der britischen Emigration zugebracht. Kurz danach war er in die Tschechoslowakei zurückgekehrt und hatte seinen ursprünglich jüdischen Namen Kohn in Kosta tschechisiert. Er hatte irgendwie mit der Akkreditierung und Betreuung ausländischer Journalisten zu tun. Und dieser Kosta wurde nun plötzlich verhaftet. Warum? Das wußte kein Mensch. Er verbrachte einige Zeit im Gefängnis und wurde von dort direkt ins Irrenhaus gebracht. Bald darauf starb er.

Die Verhaftung Kostas gab mir zu denken. Ich fürchtete, vielleicht auch längst zur Kategorie der "suspekten Subjekte" zu zählen. Mit Recht, wie sich später im Slansky-Prozeß herausstellte. Alle Angeklagten wiesen eine Reihe ähnlicher Merkmale auf: Sie waren Juden, Linksintellektuelle, Spanienkämpfer, deutschsprachig, hatten den Krieg im Westen – entweder in Frankreich oder in England – zugebracht und galten als Abtrünnige, als Abweichler von der stalinistischen Linie. Besonders gefährlich war eine enge Verbindung zu Israel. Zwei der Angeklagte waren denn auch Israelis: Oren und Augenstein.

All das traf auch auf mich zu: Ich war Jude, deutschsprachig, hatte bei der Britischen Armee gedient, war links, aber nicht dogmatisch. Und ich war israelischer Staatsbürger. Kurz und gut, mit einer Ausnahme – ich war kein Spanienkämpfer – hatte ich alle Gefährdungsmomente. 1950 bin ich dann sehr schnell, aber noch auf ganz normalem Weg ausgereist. Mit einer tschechischen Maschine nach Rom, von da mit einem israelischen Flieger nach Tel Aviv. Jahre später habe ich dann aus sicherer Quelle erfahren, daß ich, wäre ich geblieben, in die Prozesse verwickelt worden wäre. Nicht als Hauptangeklagter unbedingt, aber als Verräter, Spion oder dergleichen.

Nach einem langen Schauprozeß, der sich ganz offen gegen Zionisten, Trotzkisten und alle Abweichler von der reinen Lehre Josef Stalins wandte, wurden die Angeklagten im Slansky-Verfahren zum Teil gehängt, zum Teil erschossen, zum Teil zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Gegen wen die Prozesse letztlich sonst noch gerichtet waren, läßt sich heute schwer feststellen. Es gibt eine ganze Reihe von Theorien dazu. Formal lautete die Anklage auf Spionage für die USA. Und den Angeklagten wurden Kontakte zu den Brüdern Field vorgeworfen, die kurz nach dem Krieg in der Schweiz für die USA gearbeitet hatten. Ich kannte die Gebrüder Field gar nicht.

Palästina hatte ich verlassen, und nun kehrte ich nach Israel zurück. In den paar Jahren zwischen '47 und '50 war ein eigenes Staatsgebilde entstanden. Natürlich waren schon '46 oder '47 die Grundlagen Israels vorhanden gewesen, aber es gab doch Unterschiede. Insgesamt war für mich die Veränderung nicht sonderlich revolutionär, denn ich hatte intensiv die Presse verfolgt. Das Land war durch die jüngsten Einwanderungen – diesmal vor allem aus orientalischen Ländern – geprägt, den Aufbau der Armee, die ständigen Spannungen zwischen Israel und seinen Nachbarn und das erste militärische Bündnis mit den USA.

Die orientalischen Einwanderer brachten ihre eigenen Vorstellungen und Lebensweisen, ihre eigenen Kulturen mit. Der gemeinsame Nenner zwischen Jemeniten, Polen, Marokkanern, Deutschen, Tunesiern, Italienern usw. war: Sie alle waren Juden. Aber das machte noch keinen Staat aus. Das Militär und in geringerem Ausmaß Sprache und Schulen sollten diese Menschen zu einer gemeinsamen Gesellschaft, zu einem gemeinsamen Volk machen. Dominiert wurde der Staat natürlich von den Ashkenazim, den Europäern. Das sephardische, das orientalische Element trat in den Hintergrund. Das lag auch daran, das die zuletzt gekommenen Einwanderer in Israel immer irgendwie im Nachteil waren. Sie waren die ärmsten, sie lebten wie heute die russischen Einwanderer in Baracken, sie konnten die Sprache nicht oder kaum, und sie mußten sich erst in einer fremden Welt einleben. Sie waren völlig von den bestehenden Einrichtungen abhängig. Und sie waren häufig auch den Vorurteilen europäischer Juden ausgesetzt.

Ich war also wieder in Tel Aviv. Mit einem abgebrochenen Medizinstudium. Weiterstudieren ging nicht. Meine tschechischen Scheine und Praktika zählten in Israel nichts. Ich hätte von neuem beginnen müssen. Da ich in Prag als Journalist gearbeitet hatte, tat ich jetzt in Israel das gleiche: Ich wurde endgültig Journalist und fing an, für die Auslandspresse zu schreiben. Ich begann als Korrespondent für die tschechoslowakische Nachrichtenagentur CTK, und ich blieb deren Korrespondent bis in die Wendezeit hinein. Durch alle Höhen und Tiefen der Beziehungen zwischen beiden Ländern. Auch während der langen Jahre des diplomatischen Bruchs von 1967 bis 1991. Eine gewisse Zeit war ich sogar der einzige Israel-Korrespondent, der für eine osteuropäische Nachrichtenagentur arbeitete. Erst ab '73 waren dann auch andere akkreditiert.

So merkwürdig es auch klingen mag, in meiner Arbeit für CTK war ich absolut frei. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Das war schon irgendwie kurios. '73, während des Jom-Kippur-Krieges gegen Ägypten und Syrien, fragte ich mehrmals in Prag an: Worüber berichten? Strategische Kriegsführung? Front? Hintergründe? Prag reagierte nicht Am 25. Oktober erzwangen Amerikaner und Russen einen Waffenstillstand. Der Krieg war vorbei. Drei, vier Tage später kam eines der raren Telexe aus Prag: "Bitte keine Berichte über Kriegshandlungen." Dieses Beispiel war ganz typisch für die Kommunikationssituation mit CTK.

1953 habe ich geheiratet. Meine Frau war Lehrerin, zuerst in Ramala, wo die Araber im Jahr '48 durch israelische Einheiten unter dem Kommando von Jitzhak Rabin vertrieben wurden. Später unterrichtete meine Frau in Ramat Gan, das heute Teil von Tel Aviv ist. Ihre Eltern waren Einwanderer aus dem Baltikum, aus der lettischen Hauptstadt Riga. Aber als ich meine Frau kennenlernte, waren sie schon tot. Wir sind dann in das Haus am Tel Aviver Carmelmarkt gezogen, das meine Frau von ihren Eltern geerbt hatte. '56, als meine erste Tochter zur Welt kam, habe ich die Dachwohnung gebaut, in der ich immer noch wohne. Sie hatte damals nur zwei Zimmer, und das eine galt als "Waschküche". Nur so habe ich überhaupt eine Baugenehmigung bekommen. Nach dem Besuch der Bauinspektion schob ich die Wand der "Waschküche" um zwei Meter hinaus, und wir hatten unsere Wohnung.

'56 war ein ereignisreiches Jahr. Ich war damals auch Pressereferent der ungarischen Gesandtschaft in Tel Aviv. Die Sache hatte nur einen Haken: Die Ungarn hatten kein Geld, um mich zu bezahlen. Doch sie waren nicht nur pleite, sie waren auch völlig isoliert. Es war Oktober, die Zeit des Ungarnaufstands. Ministerpräsident Imre Nagy hatte gerade ein Mehrparteien-Kabinett gebildet und den Austritt aus dem Warschauer Pakt verkündet. Schon rollten russische Panzerverbände durch Budapest. Und in Israel rief gerade die Einheitsgewerkschaft Histadrut zu einem Generalstreik gegen die sowjetisch-ungarische Vasallenregierung unter Kádár auf. Ich erinnere mich genau: Um 10 Uhr heulten die Sirenen, und ein Proteststreik für Nagy und die Aufständischen begann. Zur gleichen Zeit brach auch der Sinai-Suez-Krieg aus, den Israel zusammen mit Frankreich und England gegen Nassers Ägypten führte. Es bestand die Gefahr von Luftangriffen auf Tel Aviv. Die in diesem Jahr besonders heftigen Herbststürme wehten uns Teile des Daches davon, und meine Frau war hochschwanger, konnte jeden Moment niederkommen. Da wir keinen Bunker in der Nähe hatten, übersiedelten wir zu meinen Eltern. Die hatten zwar auch keinen Bunker, aber sie wohnten im Erdgeschoß, und der Vorbau ihrer Wohnung war ziemlich stabil.

Wir lebten ziemlich beengt und ungemütlich zusammen. Und dazu kamen noch Spannungen mit meinem Vater. Denn ich sah den Suez-Krieg als eindeutigen Angriffskrieg unserer Seite. Mein Vater aber unterstützte den Krieg. Wir standen vor dem Radio und hörten Nachrichten über die ersten israelischen Angriffe auf dem Sinai. Ich konnte meine Kritik nicht unterdrücken, und mein Vater wurde sehr ärgerlich. Mit seiner Auswanderung nach Palästina, sagte er, habe er sich auch entschlossen, zu akzeptieren, was hier politisch vorgehe. Er habe sich entschieden: Der jüdische Staat sei sein Staat, und er trage die Politik der Regierung mit. Für mich war sein Standpunkt nicht annehmbar: Es gab und gibt einen Unterschied zwischen dem Staat Israel und der Politik seiner Regierung. Israel ist auch mein Land, die Regierungspolitik aber nicht unbedingt.

Der Suez-Krieg ging dann zu Ende. Und zwar ziemlich schmählich. Amerikaner und Russen stellten Israelis, Engländern und Franzosen ein Ultimatum. Im Grunde war es vor allem Eisenhower, der diesen Krieg praktisch abbrach. Außenpolitisch leitete der Suez-Krieg eine Phase der engen Verbindung zwischen Israel und Frankreich ein. Denn wegen der französischen Algerienpolitik gab es eine Parallele zwischen beiden Staaten: Israelis und Franzosen hatten einen gemeinsamen Feind: die Araber. Schimon Peres, unter Ben Gurion Verteidigungsminister, untermauerte diese Allianz. Dazu gehörte auch der Bau des damals geheimen Atommeilers in Demona. Die frankophile Politik hielt nach '56 einige Jahre an. Eine ähnliche Beziehung bestand später zu Südafrika. Der Burenstaat war ja in seiner schwarzafrikanischen Umgebung genauso isoliert wie Israel inmitten der Araber. Und zwischen der Homeland-Politik der weißen Südafrikaner und der israelischen Politik in den besetzten Gebieten gab es so manche Parallele.

In der Innenpolitik spielten damals wie heute ein oder zwei religiöse Parteien das Zünglein an der Waage. Dafür mußten sie belohnt werden. Das hat entweder Geld gekostet, Geld für das Erziehungssystem der Religiösen, Geld für ihre Institutionen. Oder aber Konzessionen: strengere Sabbatgesetze wie ein Verbot von Kinovorstellungen am Sabbat, schärfere Kashrutbestimmungen für koschere Nahrung usw.

Mein Vater, er war jetzt Mitte 50, arbeitete als Stadtarzt in Tel Aviv: für Kranke im Rahmen der Sozialfürsorge. Erst in einem Armenviertel von Tel Aviv, später im Norden der Stadt, wo er auch wohnte. Daneben untersuchte er Kranke und schrieb als Vertrauensarzt für eine Einrichtung, die von Deutschland Wiedergutmachung forderte, Expertisen und Gutachten. Gutachten für Juden, die die Nazizeit überlebt hatten, die seelisch und oft auch körperlich zerstört waren. Später dann wurde er medizinischer Leiter dieser Einrichtung. Und er blieb es bis zu seinem selbstgewählten Tod.

Die Zeit zwischen '56 und '67 war nicht leicht für mich. Als Auslandskorrespondent stand ich der israelischen Regierungspolitik oft sehr kritisch gegenüber. Ich bekam Probleme, führte zeitweise das Leben eines fast Geächteten. Israel war – und ist es zum Teil immer noch – sehr engstirnig, und es reagiert allergisch auf Kritik. Vor allem, wenn die Kritik von israelischen Staatsbürgern kommt und dann auch noch in der Auslandspresse erscheint. Ohnehin war die Arbeit damals sehr schwierig. Der Gedanke der Sicherheit wurde enger gehandhabt, die Zensur war schärfer als heute. Wenn ich einen Artikel geschrieben hatte, mußte ich erst zur Zensur. Dann durch die halbe Stadt zur Hauptpost. Durch das Nichtmitwirken der Behörden habe ich viel Zeit verloren. Vor allem dadurch. Wenn ich die Gegenwart mit den 50er und 60er Jahren vergleiche, dann muß ich sagen: Heute leben wir viel bequemer. Das Leben ist besser, leichter geworden. Die Unterschiede zwischen arm und reich aber sind enorm gewachsen. Früher unterschieden sich zum Beispiel die Lebensumstände eines Arztes kaum von denen eines Arbeiters oder eines Kibbuz-Mitglieds. Heute liegen Welten dazwischen.

Der Sechs-Tage-Krieg von 1967 kam nicht überraschend. Es war eine schrittweise Eskalation, die sich da am 5. Juni in einem Krieg entlud. Der Krieg wäre sicher vermeidbar gewesen. Wenn, ja wenn die beiden Großmächte das ihre getan hätten. Vor allem die Sowjetunion wäre gefordert gewesen. Der Krieg selber war kurz und dramatisch. Voll von Ereignissen, Eroberungen und Siegen. Gleich der erste Tag brachte einen entscheidenden Sieg. Die ägyptische Luftwaffe, die einzige arabische von Bedeutung, wurde noch am Boden total zerstört.

Die Frage des Sieges war eine Sache, die der Eroberungen, die damit verbunden waren – Westjordanland mit Ostjerusalem, Gazastreifen, Sinai-Halbinsel bis zum Suezkanal und Golanhöhen –, eine ganz andere. Israel war den Eroberungen und Besetzungen nicht gewachsen. Sie haben die Gesellschaft polarisiert wie nie zuvor. Und sie haben das fatale und falsche Denken: Nur wenn die Juden militärische Stärke zeigten, seien sie sicher, für lange Zeit zementiert.

Ich habe die Notwendigkeit dieses Krieges nie eingesehen, nie akzeptiert. Für mich war klar: Die Eroberung von Westjordanland und Ostjerusalem war eine lange geplante Geschichte. So wie auch die Besetzung des Golan, die ja erst erfolgte, als eigentlich schon der Waffenstillstand ausgerufen war. Erst scharfe Drohungen der UNO beendeten die Eroberung.

In der Bevölkerung herrschte damals mehrheitlich Begeisterung. Nur zu Kriegsbeginn gab es eine ganz kleine Demonstration gegen den Krieg. Alle militärischen Auseinandersetzungen, Ausnahmen sind die Kriege 1948 und 1973, waren geplant, vorbereitet und organisiert. Der Jom-Kippur-Krieg von 1973 war überhaupt ein sehr sonderbarer Krieg. Und es fällt mir schwer zu glauben, daß die israelische Regierung wirklich nie bemerkte, daß die Ägypter sich zur Überquerung des Suezkanals anschickten.

Beim Ausbruch der immer wiederkehrenden Kriege fiel mir auf, wie isoliert ich mit meiner Reaktion war. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Szene kurz vor der Libanon-Invasion von '82. Ich saß in einem Autobus, und plötzlich kam die Nachricht von den Bombardierungen Beiruts. Noch vor dem Einmarsch, sozusagen als Overtüre. Mich überkam das Gefühl der ohnmächtigen Wut und

des Alleinseins. Während die Menschen im Bus geradezu begeistert auf die Luftangriffe reagierten. Und ich saß da, saß stumm da und wußte eigentlich nicht, was ich mit meiner Wut anfangen sollte. Genau das gleiche Gefühl hatte ich '56 und '67. Später aber fanden, im krassen Unterschied zu früher, große Demonstrationen gegen den Libanon-Krieg statt. Sehr viele Israelis waren der Meinung: Diesmal ist die Regierung endgültig zu weit gegangen.

Eine der größten politischen Überraschungen war für mich, daß Sadat 1978 plötzlich nach Israel kam. Ein Jahr vor dem ägyptisch-israelischen Friedensvertrag, den Menachem Begin und Anwar AI-Sadat am 26. März 1979 in Camp David unterzeichneten. Ich war zwar auf Überraschungen vorbereitet. Aber nicht gerade auf diese: Der ägyptische Präsident spricht in der Knesset. Später stellte sich heraus, daß dem Besuch Sadats Geheimverhandlungen mit Mosche Dayan vorausgegangen waren. Im Grunde lief die ganze Sache sehr ähnlich ab wie heute. Wie vor dem Treffen von Jitzhak Rabin und Jassir Arafat.

1980 fing ich dann an, für die Westberliner tageszeitung als Korrespondent zu schreiben. Ich war mit Abstand der älteste Korrespondent der taz, die damals mit dem Slogan: "Täglich eine linke, radikale Zeitung" warb. Später schrieb ich dann auch für das dänische Pendant der taz: die Liberacion. Und für beide Blätter schrieb ich auch heute noch.

Die nächste große Überraschung brachte für mich der Sommer 1993, der mit dem Treffen und dem, wenn auch zögerlichen Handschlag vom 13. September zwischen Rabin und Arafat endete. Vielleicht war das ein historischer Moment. Ich weiß es nicht. Eines aber hat er gezeigt: Ein dauerhafter Frieden, eine Lösung für die beide Völker, die ein und dasselbe Land bewohnen, könnte möglich sein. Davor aber steht eine komplizierte Entwicklung, werden viele Krisen zu meistern sein. Eine klare Prognose wage ich daher nicht. Aber ich hoffe. Ein Durchbruch ist gemacht. Und der könnte eines Tages zu einem dauerhaften Frieden führen.

Oft bin gefragt worden, ob ich mich denn mit meiner ganzen Kritik an Israel hier überhaupt zu Hause fühle. Ja, insofern ich mich überhaupt irgendwo zu Hause fühle, dann in Israel. Ich fühle und denke als Israeli. Aber als unbequemer Israeli. Und ich habe Wünsche an Israel. Große Wünsche. Ich möchte in einem Land leben, das Frieden macht mit dem anderen Volk dieses Landes: den Palästinensern. In einem selbständigen und demokratischen Staat, der mit sich selbst und seiner Umgebung in Frieden lebt.

(Amos Wollin starb im Mai 2002 in Tel Aviv)
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