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Wie bei Biedermann und den Brandstiftern

Alisa Fuss über Demagogie und Demütigungen, über ihren Kampf gegen Rassismus und ihr Leben in Berlin und Palästina

Sie hat drei Leben hinter sich, und sie hört mit dem Kämpfen nicht auf. Als die Nationalsozialisten die 16jährige Jüdin Alisa Fuss 1935 aus Deutschland vertrieben, träumte sie von einem sozialistischen Palästina. Später kämpfte sie für einen bi-nationalen Staat Israel. Seit 1981 lebt die engagierte Reformpädagogin wieder in ihrer Geburtsstadt Berlin, seit 1991 ist sie Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte. In ihrer Wohnung, von deren Wänden Kinder und Enkelkinder lachen, reihen sich die Ordner meterweise aneinander: Iran, Sri Lanka, deutsche Asyl- und israelische Palästinenserpolitik. Doch Alisa Fuss hat nicht nur Material gesammelt über Flüchtlingselend, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, sie hat auch laut und unmißverständlich Kritik geübt. Und sie hat gehandelt. Sie war eine der ersten, die nach den Pogromen in Rostock und Hoyerswerda demonstrierten. Sie hat das Bundesverdienstkreuz an den Absender zurückgesendet, kaum hatte der Bundespräsident den Asylkompromiß im Juni 1993 unterzeichnet. In Sachen Menschenrechte ist Alisa Fuss zu keinen Kompromissen bereit, nirgendwo in der Welt. "Nichts ist so geworden, wie wir dachten", sagt sie im Gespräch mit den Berliner FR-Korrespondenten Ute Frings und Stephan Hebel. Aber sie sagt es nicht resigniert. Sie lacht wie eine junge Frau, am liebsten über sich selbst, und läßt in nächster Sekunde mit Ernst die Überzeugung spüren, auf der richtigen Seite zu stehen. Schon deshalb gibt die alte Dame das Kämpfen nicht auf.

Frau Fuss, Sie sind 1935 mit 16 Jahren aus Deutschland vertrieben worden. 1976 kehrten Sie zurück, seit 1981 leben Sie in Berlin. Wenn Sie sich heute irgendein Land der Welt aussuchen könnten, in welchem würden Sie am liebsten leben?

Ich habe für kein Land eine spezielle Priorität. Es müßte einfach ein Land sein, wo ich mich gut auf Deutsch oder auf Englisch verständigen, wo ich Freunde gewinnen kann, die mit mir ähnliche Ziele haben.

Stellen Sie sich vor, Sie sind in diesem Wunsch-Land und dürfen auch noch Gesetze erlassen. Was wäre das erste Gesetz?

Ich würde die Grenzen für Flüchtlinge öffnen und ihnen einen legalen Status geben; gleichzeitig würde ich ein Antidiskriminierungsgesetz verabschieden.

Im Juni 1993, als die Bundesregierung den Asylkompromiß verabschiedete, haben Sie das Bundesverdienstkreuz zurückgegeben. Sie schrieben damals an Bundespräsident Richard von Weizsäcker, das menschenrechtliche Fundament unserer Verfassung sei mit dem Asylkompromiß in seinen Grundfesten erschüttert. Was hat Sie bewogen, dennoch in diesem Land zu bleiben?

Ich glaube, es hat keinen Sinn, die Flucht zu ergreifen, es sei denn, man wird rausgeschmissen, wie das bei den Nazis war. Menschenrechte werden in den meisten, wenn nicht in allen Ländern verletzt; in Frankreich, in der Schweiz, heute auch in Holland, in Dänemark. Sie sind nicht viel besser, manchmal sogar schlechter. Es wäre eine schlechte Lösung, wenn alle Leute, die eine andere Idee von Recht und Gerechtigkeit haben, den Ort, wo sie mehr oder weniger verwurzelt sind, verlassen und alles so weiterlaufen ließen, wie es läuft.

Ist es Verantwortungsgefühl, was Sie in diesem Land halt?

Ja. Es geschehen heute nach dem unsäglichen Asylkompromiß Dinge, an die wir nie gedacht haben. Es gibt Abschiebungen mehr denn je. Die Bundesregierung, in Berlin Innensenator Schönbohm, tut alles, um Menschen zu demütigen und sie so weit zu bringen, daß sie womöglich alleine abhauen, wenn es nur irgend geht. Es geschehen manchmal derart perfide Sachen, daß man eigentlich jeden Tag auf die Straße gehen und schreien könnte. Aber deswegen wegzugehen, ist mir nie eingefallen.

Was bedeutet Heimat für Sie?

Nichts. Nichts. Heimat ist wahrscheinlich dort, wo man geboren ist. Wo man Familie und Freunde hat. Diese Heimat hat uns Hitler genommen. Ich sehe Israel nicht als meine Heimat an. Ich habe dort lange gelebt und habe mich auch dort, so weit ich konnte, in die Politik eingemischt. Ich bin aber auch ohne Skrupel wieder zurück nach Deutschland gegangen. Für meine Freunde und mich, von denen ein ziemlich großer Teil gebürtige Deutsche sind, war Deutschland und Nazismus nie synonym. Im Gegenteil. Wir haben zu der Zeit, als hier der Wahnsinn tobte, in Palästina Literaturabende gemacht, soweit wir deutsche Literatur bekommen konnten. Das war zum Teil Exilliteratur, später bekamen wir Bücher aus der Sowjetunion, wo es viele Übersetzungen von deutschen Klassikern gab.

Was bedeutet Deutschland für Sie?

Ich hatte nie das Gefühl, daß ich hier in ein Nazinest komme. Aber daß ich länger als das ursprünglich geplante eine Jahr in Deutschland geblieben bin, hatte mit meiner Arbeit zu tun. Mit den jungen Lehrern, mit denen ich an der Laborschule in Bielefeld arbeitete, die wirklich Ideen hatten, wie man eine andere Pädagogik, die nicht auf den preußischen Tugenden aufbaut, umsetzen kann. Ich fühle mich da wohl, wo ich Freunde habe. Jetzt habe ich auch Freundinnen und Freunde in Berlin. Wenn man schon von Heimat spricht, dann ist das eine Heimat. Keinesfalls jedoch in dem Sinne, wie das Wort oft gebraucht wird: "Heimat über alles." Das ist es nicht.

Frau Fuss, Sie stehen nicht im Telefonbuch. Fühlen Sie sich bedroht?

Na ja, bedroht. Ich stand im Telefonbuch und bekam immer so blöde Anrufe: Du Judensau. Dich haben sie vergessen zu vergasen. Der Zug nach Auschwitz steht bereit. Das kam immer in Wellen, immer dann, wenn wir in der Internationalen Liga für Menschenrechte, deren Präsidentin ich seit 1991 bin, eine Aktion gemacht haben. Immer in der Nacht. Beim ersten Mal bin ich zur Polizei gegangen. Die haben mir vorgeschlagen, sie könnten mir eine Fangschaltung legen. Aber erstens sollte das Geld kosten und zweitens arbeitet die Fangschaltung nicht am Wochenende. Ich verzichtete dankend. Seitdem stehe ich nicht mehr im Telefonbuch. Aber ich gebe allen meine Telefonnummer, das ist kein großes Geheimnis. Nur ist es besser, ich stehe nicht im Telefonbuch, dann können mich solche Anrufer nicht so schnell erwischen.

Sie sind in Berlin geboren und aufgewachsen. Wie war das?

Als ich geboren wurde, waren wir wohlhabend. Mein Vater war Kaufmann, er hatte ein Herrenbekleidungsgeschäft in der Friedrichstraße. Ich bin hier gleich nebenan in der Altonaer Straße geboren worden. Später sind wir in eine Villa in Zehlendorf gezogen, mit vielen Bediensteten und einem Auto, was damals noch ungewöhnlich war. Dort bin ich in eine normale deutsche Schule gegangen, wir waren drei oder vier jüdische Mädchen in der Klasse. Ansonsten: wir gingen in den Zoo, wir hatten ein Jahresabonnement, auch für das Theater. Ein ganz normales Leben eben, unter Antisemitismus habe ich bis 1933 nicht gelitten.

Spielte das Judentum eine wichtige Rolle in Ihrer Kindheit?

Ja. Mein Vater war orthodox, meine Mutter zwar eher liberal, aber sie hat alles mitgemacht, was mein Vater wollte. In unserem großen Haus – es gab 14 Zimmer außer einem Trakt, in dem die Bediensteten wohnten – hatte mein Vater die untere Etage zu einer Synagoge ausgebaut. In der Gegend gab es keine öffentliche Synagoge. So kamen Freitagabend und Samstag die Juden aus der Nachbarschaft immer zu uns zum Beten.

Sie waren demnach ein sehr frommes Kind?

Ja. Aber das hat sich schon mit zehn, elf Jahren gelegt. Da habe ich dann lieber in der Synagoge das Buch, das ich gerade las, dort weitergelesen, während die anderen beteten. Damit es keiner bemerkt, habe ich es vorher in einen weißen Umschlag gesteckt. Aber auch dieses schöne Leben änderte sich, noch bevor die Nazis an die Macht kamen. Schon 1932 ging das Geschäft meines Vaters nicht mehr so gut, 1933 kamen die Boykotte dazu, seitdem hat er sich wirtschaftlich nicht mehr erholt.

Was geschah 1933?

Mein Vater hatte schon zuvor versucht, sich an irgendeinem anderen Ort in Deutschland eine Existenz aufzubauen. Schließlich fand er etwas in Breslau, wo wir dann hinzogen. Das war 1933. Da fing es dann an. In der Schule mußte man "Heil Hitler" sagen, und die jüdischen Mädchen wurden auf die hinterste Bank verbannt. Die ganze Atmosphäre war unangenehm, viele liefen in Uniformen herum, es wurden Luftschutzübungen abgehalten. Mir ist nichts passiert. Ich hatte auch deutsche Freundinnen. Mit einer habe ich sogar eine Radtour durch ganz Deutschland gemacht. Aber ihr Bruder war schon in der SA. Schließlich sind die Verbindungen einfach abgestorben. Ich bin noch ein Jahr in Breslau auf das Jüdische Gymnasium gegangen. Mit 16 bin ich abgegangen, um als Mitglied eines zionistischen Jugendvereins das Malerhandwerk zu lernen.

Wurden Sie Zionistin aus Überzeugung oder wegen Hitler?

Wegen Hitler natürlich, aber auch aus Überzeugung. Dazu muß man sagen, unsere Gruppe war keine nationalistische, chauvinistische so wie andere, die damals gesagt haben: "Hitler hat uns zwar erst zu Juden gemacht, aber das ist nun auch wieder gut. Denn jetzt können wir endlich begründen, daß alle Juden nach Palästina auswandern müssen." Keiner hat gewußt, wie schlimm es in Deutschland werden wird. Aber wir sahen, daß wir hier keine Zukunft hatten.

Gingen Sie allein, ohne Ihre Familie nach Palästina?

Die Engländer hatten für die Einwanderung nach Palästina Quoten festgesetzt und Bedingungen gestellt: Entweder brauchte man ein Zertifikat über einen dort notwendigen Beruf, oder man mußte ein sogenannter Kapitalist sein, das heißt 1000 englische Pfund nachweisen können. Meine Eltern konnten weder das eine noch das andere vorzeigen. Deswegen wurde über ihre Auswanderung nach Palästina gar nicht geredet. Sie sind dann mit falschen Papieren nach Südamerika geflohen. Es gab aber eine Jugend-Aliya, eine Auswanderung für Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren, die in einem Kibbuz aufgenommen wurden. Mit so einer Gruppe bin ich gefahren.

Hatten Sie eine konkrete Idee vom Leben in Palästina?

Im Gegensatz zu den chauvinistischen Gruppen wollten wir dorthin, um einen sozialistischen Staat aufzubauen. Ja, es ist heute nur noch zum Lachen, aber damals meinten wir es sehr ernst. Wir hatten das "Kapital" von Karl Marx gelesen und all' die anderen populären Schriften von Engels, Lassalle... Wir waren überzeugt, daß nur diese Gesellschaftsordnung den Faschismus verhindern könne, überall auf der Welt. Deshalb waren wir auch nie chauvinistisch. Wir sind nicht, wie die Rechten unter den Zionisten, nach Palästina ausgewandert, um dort ein jüdisches Groß-Israel aufzubauen. Wir haben nie gesagt, in Palästina leben keine Araber. Im Gegenteil. Wir wollten mit den Arabern gleichberechtigt zusammenleben. Nur: Wir hatten keine Ahnung. Keiner von uns hatte jemals einen Araber auch nur gesehen. Wir dachten, Araber sitzen vor dem Zelt und trinken Kaffee oder reiten auf feurigen Pferden und Kamelen daher. Wie die Fellachen – also die Bauern, und das waren die meisten von ihnen – wirklich lebten, haben wir gar nicht gewußt.

Und was geschah dann vor Ort?

Ich erinnere mich noch, als wir in Jaffa ausgebootet wurden. Von den großen Schiffen mußte man auf kleinere Boote umsteigen, um in den Hafen zu gelangen. Auf diesen Booten haben ausschließlich Araber als Lastträger gearbeitet. Als die nun auf unser Schiff kamen, um unsere Koffer zu nehmen, bin ich zu jedem einzelnen gegangen und habe ihm die Hand gegeben. Erstens ist es bei Arabern unschicklich, wenn eine Frau einem fremden Mann die Hand gibt. Zweitens hat keiner gewußt, was das überhaupt soll. Wir waren einfach kriminell naiv...

... und beseelt von der Utopie des Sozialismus. Dennoch haben Sie den Kibbuz schon nach zwei Jahren verlassen.

Ja. Anfangs war ich gerne dort. Ich denke auch heute nicht im Zorn an die Zeit zurück, es war keineswegs eine verlorene Zeit. Das Leben in der Kommune hat mir sehr gut gefallen. Das Problem war ein politisches. Alle Kibbuzniks mußten Mitglieder der Haganah werden, einer paramilitärischen Organisation, die nach der Staatsgründung Israels die Armee wurde. Die Haganah war gegründet worden, so wurde es uns damals erklärt, zur Verteidigung der jüdischen Siedlungen. Das Ganze wurde stark mystifiziert. So mußte man etwa bei der Aufnahme in einem verdunkelten Zimmer im schummrigen Schein von Kerzen auf ein Gewehr schwören, daß man bereit sei, auf Araber und Kommunisten zu schießen.

Auch auf Kommunisten?

Ja. Die Kommunisten waren damals sehr verfemt. Sie waren illegal, wie wohl in allen englischen Kolonien, aber vor allem wurden die Kommunisten verfolgt, weil sie den Befreiungskampf der Araber gegen die Engländer unterstützten. Diese und ähnliche Sachen haben mir nicht gefallen. Aber ausschlaggebend für meine Entscheidung, den Kibbuz nach zwei Jahren zu verlassen, war schließlich, daß die Leitung der Haganah eine neue, ganz offizielle Taktik anwandte. Uns wurde erklärt, daß man nun nicht mehr abwartet, bis man angegriffen wird, sondern "prophylaktisch" in die arabischen Dörfer geht, dort Leute erschießt oder Bomben legt. Ich bin gegangen, nur mit dem was ich anhatte.

Sie sagten vorhin, es geschehen heute Dinge, die Sie nicht erwartet hätten...

Heute werden nahezu tagtäglich Ausländer überfallen, viele der Überfälle sind kaum eine Meldung wert. Und wenn, wird meist gleich dazu gesagt, die Polizei sehe noch keinen rassistischen Hintergrund. Obgleich es sich nachher herausstellt, daß es Rechtsextremisten oder Skinheads waren. Aber dann war es eben ein Einzeltäter...

Wie sehen Sie die Zukunft in diesem Land?

Mit der Regierung, die wir haben, wird es so weitergehen und es wird noch schlimmer werden. Mit Regierung meine ich etwa unseren christdemokratischen Innensenator. Allerdings ist die SPD auch

Die SPD argumentierte immer, daß ein freier Zuzug von Flüchtlingen den Rechten Auftrieb gebe. Sie fordern den freien Zuzug. Was antworten Sie denjenigen, die das für naiv halten?

Volkes Stimme, von der Sie sprachen, wird auch gemacht. Tagtäglich in der Presse, im Fernsehen. Man sieht in anderen Ländern, etwa in Frankreich, daß sich das wandeln kann. Dort hat jetzt die neue Regierung ein Gesetz erlassen, nach dem diejenigen, die schon im Land sind, auch bleiben können. Die alte Regierung hatte verfügt, daß alle raus müssen. Viele Franzosen waren auch sehr solidarisch mit den Flüchtlingen.

Kann man sich eine ähnlich starke Bewegung in Deutschland vorstellen?

Ich glaube nicht, daß es so etwas gibt wie einen Volkscharakter. Aber daß man in Deutschland nicht gerne Fremde, Nicht-Deutsche hat, ist eine alte Geschichte. Ich glaube, gerade deshalb kommt es auf die Politik an, die eine Regierung macht.

Wie sollte die aussehen?

Es ist klar, daß immer mehr Menschen auf der Flucht sind und sein werden, ganz konkret auf der Suche nach Brot. Denn keineswegs handelt es sich bei den Flüchtlingen "nur" um politisch Verfolgte, denen der Tod droht, etwa in Nigeria oder Iran. Wir alle haben die Fernsehbilder gesehen, wie Nordafrikaner in völlig seeuntüchtigen Booten versuchen nach Italien zu oder Spanien zu gelangen, um dort für zwei, drei Mark zu arbeiten. Was für sie immer noch besser ist, als in der Heimat zu verhungern. Ich habe auch keine Lösung für das ganze Problem, es ist ein globaIes. Aber wenn Menschen schon so viel auf sich genommen haben, um ihr Land zu verlassen, dann muß man einen Modus vivendi finden, und wenn es "nur" wie in Kanada ein relativ großzügiges Einwanderungsgesetz ist. Dort kann man zwar auch nicht einfach kommen, aber wenn man gute Beziehungen zu kirchlichen oder humanitären Organisationen besitzt, hat man eine Chance. Selbst Flüchtlinge, die hier von Abschiebung bedroht waren, haben wir schon nach Kanada gebracht.

Nun wird aber auch, unter anderen vom Berliner Innensenator Schönbohm, das Argument angeführt, Asylbeschränkungen seien ein Kampf gegen Schlepperbanden. Ihre Eltern haben Schlepper gebraucht, um Deutschland zu verlassen.

Ja. Schönbohm ist ein großer Demagoge, sowohl was das Argument mit den Schlepperbanden als auch die Interpretation der Kriminalstatistik anbelangt. Danach verüben junge Ausländer die Mehrzahl der kriminellen Taten. Das stimmt aber nicht. Das ist Demagogie. Ein Großteil der in der Statistik aufgeführten Ausländerkriminalität betrifft Verstöße gegen Aufenthaltsbestimmungen, die ein Deutscher hierzulande ja gar nicht verüben kann. Oder wenn Schönbohm sagt: So wie wir nach dem Zweiten Weltkrieg die Ärmel hochgekrempelt und unser Land aufgebaut haben – von den reichlichen Geldern des Marshall-Plans spricht er allerdings nicht – so sollen das jetzt die Bosnier tun. Also müssen sie raus. Auch das ist reinste Demagogie. Es gibt viele Fragen, auf die ich keine Antwort habe. Heute wird alles so organisiert, um diejenigen, die etwas haben, zu schützen und die anderen draußen vor zu lassen. Deshalb bin ich auch überzeugt, daß ein entscheidendes Kriterium für die Aufnahme von osteuropäischen Ländern in die Europäische Gemeinschaft die Eignung des

Ist es nicht absurd, daß ausgerechnet Menschen wie Sie, mit Ihrer Biographie, dieses Land an seine Geschichte erinnern und mit Blick darauf politische Verhaltensweisen für die Gegenwart einklagen müssen? Die Opfer in der Rolle der ewig Mahnenden, und was ist mit den anderen?

Ich habe viele deutsche Freunde, die Nachkommen von Nazis oder zumindest von Mitläufern sind. Es ist nicht so, daß sich alle einen feuchten Kehricht um die Vergangenheit kümmern. Ein Teil sicher. Aber das ist in jedem Fall so. Auch in Israel kümmern sich die meisten nicht darum, was mit den Palästinensern geschieht.

Sie haben einmal gesagt, der Geist hinter den Pogromen von Hoyerswerda, Mölln, Solingen sei der gleiche wie der von 1933. Nur sei der Terror damals im Unterschied zu heute Regierungsprogramm gewesen. Woraus speist sich der Geist heute?

Es ist ein Unterschied, ob man Menschen gleich physisch vernichten will, oder ob man ihnen nur das Leben unerträglich machen will. Wo der Geist seine Nahrung findet? In jeder Rede von Schönbohm, von Kanther, von Kohl, von Kinkel. Vor allem bei Kanther ist es wie mit Biedermann und den Brandstiftern. Man muß den Brand nicht selbst legen, aber man kann alles dazu tun, damit er gelegt werden kann. Die haben ein Klima geschaffen, das sich gut als Nährboden für rechtsradikale Jugendliche eignet.

Was kann man mit diesen Jugendlichen tun? Zur Resozialisierung nach Israel schicken oder sozialpädagogisches Theaterspiel?

Da halte ich überhaupt nichts von.

Was schlagen Sie vor?

Das fängt schon in der Schule an. Die müßte ganz anders sein. Sie müßte die Kinder zum Denken bringen. Die Jugendlichen müßten eine Perspektive haben, einen Beruf lernen können, eine Arbeit haben. Die meisten dieser Schlägertrupps sind ja keineswegs gut situiert. Das ist eine verlorene Jugend. Insofern kann man auch den Vergleich mit der Nazizeit ziehen, was ich allerdings nicht gerne tue. Aber auch bei den Nazis haben sich zuerst diejenigen gesammelt, die keine Perspektive hatten.

Sie sagten, Sie wollten im Kibbuz den Sozialismus aufbauen. Wie würden Sie sich heute beschreiben? Wo ist heute "rechts" und "links"? Haben Sie noch eine politische Utopie?

Als Sozialistin würde ich mich immer noch bezeichnen. Eine Utopie habe ich auch. Trotz der vielen Fehler und Schandtaten, die in der Sowjetunion und in den anderen sogenannten kommunistischen Ländern begangen wurden, glaube ich doch, daß die Grundidee eine richtige ist. Niemand konnte mich bisher überzeugen, daß ich dies alles negieren muß, auch meine eigene Vergangenheit nicht, obwohl wir gerade über verschiedenes gelacht haben. Ich negiere diese Utopie nicht, weil ich die Gefahren und die ungeheure Brutalität der heutigen Gesellschaftsordnung sehe. Die ist auf jeden Fall katastrophal.

(...)

Frau Fuss, Sie scheuen sich nicht, die israelische Politik in Deutschland zu kritisieren. Allerdings melden Sie sich selten zu Wort, wenn es um innerjüdische Angelegenheiten in Deutschland oder in Berlin geht. Woran liegt das?

Ich bin Mitglied in der Jüdischen Gemeinde, aber was mich am meisten gestört hat, ist, daß sie nie den Kampf gegen Antisemitismus mit dem Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verbunden hat. Doch das gehört zusammen, gerade für Juden.

Gibt es etwas, das Sie in Ihrem politischen Leben noch erreichen möchten?

Keine großen Sachen. Ich bin nicht gesund, und leider schreitet die Krankheit auch fort. So lange es geht, möchte ich weitermachen wie bisher. Mehr ist nicht drin.

Frankfurter Rundschau, 11. August 1997

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