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Impressionen eines Werbers 1917

Werbung für Iquique

Ich benötige 200 Arbeiter für die Salpeterminen von Tarapacá, ledig oder mit Familie. Die Abfahrt von Santiago erfolgt am Mittwoch den 24. des gleichen Monats mit dem Nachtzug um 21 Uhr 40. – Treffpunkt: Kiosk im Hauptbahnhof gegenüber dem Hotel Peralta. – Hinweis: Man wird Verheirateten, wenn sie sich bewerben, genauso entgegenkommen wie Ledigen.

(...)

Der Vorbeimarsch beginnt. Zeichnen wir ein Bild von den bemerkenswertesten Figuren dieser malerischen und traurigen Ansammlung von Individuen. Es nähert sich ein armer Alter, von den Jahren und Leiden gezeichnet, mit einem langen Backenbart, sein weißhaariger Kopf nur unzulänglich bedeckt mit einem abgetragenen Sombrero. Seine Kleidung ist erbärmlichst, sein Schuhwerk schlecht. Mit zitternder Stimme wendet er sich an einen der Werber:

– Bin ich hier richtig, wo man sich bewerben kann?

Die Männer, die auswählen, schauen ihn an. Er erscheint ihnen alt, gebrechlich, schwächlich. Da gibt es nicht die anmaßende Muskulatur, die der Salpeterarbeiter benötigt. Und sie fragen ihn:

– Was willst du im Norden machen?

Und der Alte spricht:

– Chef, ich bin von dort, ich habe lange Zeit da gearbeitet, ich war in den Minen "Alianza" und "Constanzia" und möchte dorthin zurück. Ich habe als Transportarbeiter gearbeitet.

– Du bist alt, du taugst für nichts, antwortet einer der Herren.

Beide wenden sich ab und lassen ihn stehen.

Und aus der Gruppe der Umherstehenden – derer, die sich schon eingeschrieben haben, derer, die noch warten, und derer, die zuschauen – ertönt ein heftiges, lautes und spöttisches Gelächter. Sie verhöhnen den Alten.

Und der Alte wird traurig, zwei scheue, machtlose Tränen bilden Furchen auf seinen faltigen Wangen und verlieren sich dann in dem grauen Backenbart.

– Chef, sagt er mit einer bitteren Geste zu einem der Männer, die auswählen, bitte nimm mich, hier sterbe ich vor Hunger.

Und in diesen Worten steckt der Gestus der Tragödie. Es ist das Bittgesuch eines Unglücklichen, eines Bettlers, von einem, der nicht mehr im Süden dienen will, der gehen möchte, um sich für immer auf jener Erde auszuruhen, die ihm die Jugend geraubt hat und die Kraft seiner Arme.

Und einer der Werber, der mit der freundlichen Stimme, der Anständigere, fühlt Mitleid und sagt:

– Gut, wir nehmen dich mit, du taugst zwar für nichts; aber du kannst nützlich werden, um uns die Abgänge, die die Schiffsreise kosten wird, wieder aufzufüllen. Wie heißt du? Und der freudig bewegte Alte antwortet mit zitternder Stimme:

– Juan Pérez.

Sein Name wird aufgeschrieben und er erhält einen Ausweis. Ab sofort gehört der alte Juan Pérez zum Heer der Ausgewählten. Es kommen andere an. Es ist tragisch und komisch zugleich. Man findet von allem etwas.

Einige tragen breite Sombreros, Sombreros von der Feldarbeit, auf den Schultern den Poncho und an der Hand ein Bündel, andere haben nichts dabei, wieder andere haben Galgengesichter, einige zittern vor Hunger, und ein paar Diebe und Gauner scheinen auch dabei zu sein. Aber darauf achtet man nicht, was stört daran, Wegelagerer, Taugenichtse und schlechte Menschen mitzunehmen. Hier geht es nicht darum, Seelen zu ergründen, nein, man schaut sich die Körper an. Was zählt, sind Menschen, die kräftig genug aussehen, um in der Salpeter- Pampa zu schuften.

Und der Vorbeimarsch geht weiter, endlos, malerisch und traurig. Die Zurückgewiesenen blicken voll Kummer und Gram auf die, die fahren. Und diese schauen triumphierend und voller Siegesbewußtsein zu ihnen hinüber.

Die, die schon einmal im Norden waren, sprechen von der Arbeit und dem Geld, das sie verdient haben.

– Oh ja, das ist wirklich kolossal! Tausende von Pesos, ein prachtvolles Leben, unvergleichlich!

Und nun stehen die, die erzählen, dieses viele Geld in ihren Händen gesehen zu haben, wieder hier, ohne einen Pfennig. Weder können sie sich ein Stück Brot kaufen noch haben sie ein paar feste Schuhe an den Füßen. Die Ausbeutung hat ihnen nicht nur ihre Muskelkraft genommen, sie hat ihnen auch noch jeden gewonnenen Fetzen geraubt.

Aber alle, die für die Fahrt in den Norden ausgewählt wurden, lachen, lachen voller Freude...

(...)

Jedes Mal, wenn ich durch Taltal komme, steigen in mir wieder die Bilder auf von jener traurigen Episode 1914, als alle Salpeterwerke stillgelegt waren. Ich habe diese Zeit selbst erlebt.

Meiner Neigung zum Abenteurertum ist es zu verdanken, daß ich in einer Salpetermine hängenblieb, die zum Distrikt Taltal gehört. Zum Zeitpunkt, als die Salpetermine stillgelegt wurde, arbeitete ich dort als Maschinist.

Gemeinsam mit meinen Arbeitskollegen machten wir uns auf den Weg hinunter zum Hafen. Die Unterkunft, die man für uns vorgesehen hatte, war ein Loch, feucht, übelriechend, schmutzig und prädestiniert für die Verbreitung von Seuchen. Dort mußten wir bleiben, bis uns ein Dampfer abholte, der uns in den Süden bringen sollte, wo uns Papa Staat eine Arbeit in der Landwirtschaft geben würde.

Das Essen wurde durch die Regierung verteilt. Ein mangelhaftes und schlechtes Essen, das noch nicht einmal die Hunde gern gefressen hätten, aber wir waren durch den Hunger dermaßen gierig, daß wir gezwungen waren, es herunterzuschlingen.

Die Elendsszenen jener Epoche waren herzzerreißend.

Eine lange Karawane von Frauen und Kindern, alten und jungen Männern vagabundierte durch die Straßen und flehte um Barmherzigkeit, andere fanden sich am Meeresstrand ein und sammelten die Abfälle, die die Wellen anspülten. Es war wie ein menschliches Gewitter, das sich durch die Straßen und besseren Geschäftsviertel ergoß. Tausend Hände streckten sich dem Passanten entgegen und baten um ein Almosen. Tausend Stimmen verfluchten ihr Schicksal und erschütterten mit ihrem tragischen Widerhall auf dem Höhepunkt der Not die Grundfesten der Stadt.

Ich sah die Bürger zittern, die Schacherer der Siedlung. In panischer Angst befürchteten sie, daß das Heer der Hungernden ihre Geschäfte und Geldschränke plündern würde. Und ich sah, wie sie meine Geschwister im Elend verabscheuten, die das Vaterland verfluchten und den Ruin, der sie in die Ehrlosigkeit geworfen hatte, die in jedes Herz den Gedanken zu rauben, in jede Hand die Waffe des Verbrechers pflanzte.

Und gemeinsam mit ihnen spürte ich das Verlangen nach Gerechtigkeit und Vergeltung. Ich spürte, wie in meinem Innersten das Rebellische aufzuckte, wie es sich verkrampfte und befriedigt werden wollte. Und angesichts der Lumpen, die vorüberzogen, angesichts der Tränen, die flossen, sah ich vor mir das Bild einer Karavane von Menschen, die die Peitschen schwangen, um die Händler im Tempel der Menschheit zu züchtigen, und ich stellte mir vor, daß das Volk endlich seine Pflicht erfüllte und sich das nahm, was ihm zustand, was es selbst hervorgebracht hatte. Ich glaubte, den Taumel der Schlacht zu spüren, den Zusammenprall der Dutzendmenschen mit den Privilegierten, den Aufstand der Klasse der Verdammten und den wilden Befreiungsschrei, der sich wie ein Credo erhob, wie eine Fahne, wie eine Apotheose von den rauchenden Trümmern der Barrikaden.

Aber das Volk ging an dem herrschaftlichen Palast, an den schamlos ausgestellten Waren vorbei, ruhig und ernst. Taltal verhielt sich diesem Hungermarsch gegenüber gleichmütig, genauso gleichmütig, wie später Iquique, Antofagasta und Valparaíso zuschauten. Die heftigen Zuckungen vollzogen sich nur im Innern des Vulkans, der Krater gab die Lavaströme und Aschewolken nicht frei.

Niemals werden die, die damals im Norden waren, die traurigen Tage der Arbeitslosigkeit vergessen.

Die Geschichte jener Zeit ist noch nicht geschrieben worden. Um sie niederzuschreiben, wird man die Feder in Tränen und Blut tauchen müssen. Denn das, was bei jener schmerzhaften Empfängnis des Lebens in der Pampa herauskam, waren Wehklagen und Blut.

Man wird ein Bild davon malen müssen, wie die Arbeiter in verschmutzten Booten verschifft wurden; ein Bild des Lebens während der Überfahrt, der Bettelei in den Straßen von Valparaíso, Santiago und Concepción; der ständig wiederkehrenden Wellen der Armut; ein Bild des armseligen Verkaufs von Frauenkörpern, die sich der Unzucht hingaben, um von den Faunen ein Brot zu erbetteln; der Erniedrigung von rechtschaffenen Arbeitern, die sich auf kriminelle Machenschaften einließen, um essen zu können. Dieser Bericht wird eine Auslese des proletarischen Elends sein, eine schallende Ohrfeige in das Gesicht einer Schurkengesellschaft und ein Rüffel gegen das Volk, das selbst den Galgen aufstellt, um gehängt zu werden.

Das Bewußtsein des eigenen Wertes verliert sich, je mehr man sich der Sanftmut und der Kriecherei verschreibt. Die Völker, die die Kette ihrer Versklavung küssen, bringen sich selbst um. In den schlimmsten Momenten der Beleidigung lassen sich am besten die inneren Werte eines Menschen einschätzen.

Und wenn dieser Mensch die Hand des Beleidigers küßt, muß er sterben.

A. de Guafra

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